Es ist eine Weile her. Am 1. Januar 2004, also vor fast 20 Jahren, trat das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft, welches unter anderem die autonome Benutzung des öffentlichen Verkehrs von Menschen mit Behinderungen bis 2023 verlangt. Schon jetzt ist klar: Dieses Ziel wird bei Weitem verfehlt.
Organisationen, die sich für die Anliegen von Menschen mit Behinderung einsetzen, zeigen sich enttäuscht. Inclusion Handicap schreibt auf Anfrage: «Die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetztes wurde vielerorts schlicht verschlafen, obwohl die Verkehrsunternehmen seit 20 Jahren wissen, dass sie per Ende 2023 alle ihre Haltestellen und Transportmittel so anpassen müssen, dass Menschen mit Behinderungen diese spontan und autonom benützen können.»
Immerhin sei nun etwas mehr Tempo aufgenommen worden, heisst es bei Inclusion Handicap weiter: «Dies aber auch erst, nachdem das Bundesamt für Verkehr auf Druck der Eidgenössischen Finanzkontrolle bei den Bahnunternehmen die Schrauben angezogen hat.»
Ostermundigen und Münsingen erst ab 2030 saniert
Auch im Kanton Bern erfüllen aktuell knapp 60 Bahnhöfe die Vorgaben des Gesetzes nicht. Laut dem Standbericht 2022 werden 15 Berner Bahnhöfe dies erst ab 2030 tun. Sprich: mehr als sieben Jahre zu spät. Darunter auch in grossen Gemeinden an der Zugstrecke Bern-Thun. Dort warten beispielsweise Ostermundigen und Münsingen auf eine Sanierung.
In Ostermundigen und in der Stadt Bern lagen die Pläne für die Bahnhofsanierung in Ostermundigen kürzlich öffentlich auf. Ob es Einsprachen gab, die den geplanten Baustart im Januar 2025 potenziell verzögern könnten, wird sich laut Bundesamt für Verkehr diese Woche zeigen. Bevor man Bilanz ziehen könne, warte man noch die B-Post ab, mit welcher nach wie vor Einsprachen eintreffen können. In Gümligen ist der Baustart Ende 2029 angesetzt und in Münsingen gar noch offen.
SBB bedauert Verspätung
Man habe viel unternommen, sagt die SBB zur Kritik der Behindertenorganisationen. Man wisse, dass die Ziele verfehlt wurden. «Ende 2023 können erst drei Viertel unserer Kundinnen und Kunden barrierefrei reisen, das bedauern wir. An allen Bahnhöfen, die ab Ende 2023 noch nicht barrierefrei zugänglich sind, bieten wir Übergangs- bzw. Ersatzlösungen an», schreibt die Kommunikationsabteilung der Bundesbahnen.
Leute mit eingeschränkter Mobilität könnten sich mindestens zwei Stunden vor der Reise an das SBB Contact Center Handicap wenden, um Hilfe beim Ein- und Aussteigen zu erhalten.
Doch weshalb kam es überhaupt zur Verzögerung? Die SBB begründet: «Einerseits hat sich die Umsetzung als komplexer erwiesen als anfangs geplant. Andererseits haben präzisierte Anforderungen an barrierefreie Bahnhöfe dazu geführt, dass die SBB mehr Bahnhöfe umbauen muss als ursprünglich angenommen.»
Viele Baustellen bis zur Inklusion
Inclusion Handicap sieht, dass sich die ÖV-Unternehmen zuletzt bemühten, die verpasste Arbeit nachzuholen. Dabei entstünde nun aber ein Flaschenhals und es brauche eine Priorisierung der Projekte. Damit werden gewisse Sanierungen noch später umgesetzt und die Leute in den entsprechenden Regionen noch länger diskriminiert. «Der ÖV ist ein wichtiges Bindeglied und Türöffner für Arbeit, Ausbildung und soziale Kontakte. Er ist von zentraler Bedeutung für die Teilhabe am öffentlichen Leben», schreibt Inclusion Handicap.
Dass dies keine Floskeln sind, zeigte der am Dienstag veröffentlichte Schweizer Inklusionsindex der Organisation Pro Infirmis. In Umfragen gaben vier von fünf Personen mit einer Behinderung an, dass sie sich in einem Lebensbereich stark ausgeschlossen fühlen. Oder anders gesagt, es gibt noch einige Baustellen – gerade bei Bahnhöfen – bis die Inklusion, wie vom Gesetz vorgegeben, auch umgesetzt wird.