Der letzte Schnitt

Berner Traditionscoiffeuse Hedy Leu hört auf: «Jeder Tag war spannend»

16.12.2022, 08:55 Uhr
· Online seit 14.12.2022, 17:37 Uhr
Hedy Leu war fast 50 Jahre Coiffeuse in der Berner Innenstadt – jetzt nimmt sie an Heiligabend ihre Schere ein letztes Mal in die Hand. Sie erzählt, was das Geheimnis für eine enge Kundenbindung ist und wie sich der Beruf verändert hat.
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Eine Coiffeuse aus Leidenschaft – so lässt sich Hedy Leu gerne bezeichnen. 1973 hat sie die «Stifti» gemacht, 1984 war sie bereits selbstständig. In der Spitelgasse in Bern konnte sie sich in ein Geschäft einmieten, nach sechs Jahren wechselte sie an die Zeughausgasse. Dort verbrachte sie 18,5 Jahre. Wegen Eigenbedarf zügelte Leu 2009 in einen Salon neben dem «Zytglogge». Und erst letztes Jahr richtete sie sich in einem Raum an der Münstergasse ein. Nach fast 50 Jahren schliesst das Coiffeurgeschäft «Scheitelpunkt» an Heiligabend seine Türen nun für immer – der Mietvertrag läuft aus und Hedy Leu geht in Pension.

«Ich nehme viele schöne Erlebnisse mit»

Die 66-Jährige blickt sichtlich gerührt auf eine schöne Zeit zurück. Manche Kundinnen hätten sie fast ihr ganzes Leben lang begleitet. «Es gibt Frauen, die sich während den letzten 30 bis 40 Jahren von mir haben bedienen lassen. Das ist extrem schön!»

Sie nehme viele schöne Erlebnisse mit in die Pension, man habe gewissermassen einen Teil seines Lebens mit den Stammkunden verbracht. Es handle sich dabei aber meistens nicht einfach um Kundenbeziehungen, es gehe darüber hinaus: «Ich weiss sehr viel über die Kundschaft», so Leu. Auch viele Schicksalsschläge habe sie mitbekommen. Und manchmal sei auch so was wie eine Freundschaft entstanden. Sie habe viel von den Kundinnen und Kunden lernen können: «Jeder Tag war spannend.»

Beruf besteht auch aus Zuhören

Wenn man Menschen nicht möge, sei der Beruf der Coiffeuse sicherlich nichts für einen, sagt Hedy Leu lachend. «Man ist 50 Prozent dafür da, um den Menschen eine schöne Frisur auf den Kopf zu zaubern. Die anderen 50 Prozent ist man Psychologin oder zumindest eine gute Zuhörerin». Vor allem in den letzten Jahren während der Pandemie hätte der Redebedarf der Menschen enorm zugenommen. «Man merkt, dass viele Menschen einsam sind», so Hedy Leu. Oftmals sei eine Coiffeuse die einzige Ansprechsperson für Alleinstehende.

Zum Teil kämen Kundinnen vorbei, bei denen man merkt, dass der Haarschnitt eigentlich zweitrangig ist und das Gespräch im Vordergrund stehe. Auf die Frage, ob Hedy Leu denn immer ein offenes Ohr habe und immer zuhören mag, sagt sie: «Auch ich habe manchmal Sorgen. Aber diese bleiben draussen vor dem Salon. Die Kundin hat Anspruch auf 100 Prozent von mir und die will ich ihr auch geben».

Tolle Zusammenarbeit

Auch die Augen von Beatrice Röthlisberger sind feucht, als sie von ihrer Zeit im Salon «Scheitelpunkt» erzählt. Die langjährige Mitarbeiterin von Hedy Leu findet die passenden Worte: «Eine Ära geht zu Ende». Sie habe gerne mit ihrer Chefin zusammengearbeitet. Vor allem Hedys loyale Art gefällt ihr. «Ich würde gerne noch zehn weitere Jahre hier an der Münstergasse arbeiten», so Beatrice Röthlisberger. Sie schätzt es, dass sie mit manchen Kunden mittlerweile «per Du» ist und dass noch nach «alter Schule» gearbeitet wird. Heisst: «Den Kunden werden die Mäntel abgenommen, ein Kaffee angeboten und ein ‹Heftli› parat gemacht – zum Beispiel die ‹Vogue›».

Wie es für Röthlisberger nach der Schliessung des Salons weitergeht, ist noch offen. «Aber immer wenn sich eine Türe schliesst, geht eine andere auf», ist sie sich sicher.

«Bei mir sind keine Kunden am Handy»

Hedy Leu hat das Gefühl, dass bei anderen, neueren Salons der Kundenkontakt meist nicht so eng ist, wie bei langjährigen Coiffeusen. Viel sei oberflächlich, die neue Frisur müsse schnell gehen und die Kunden starren während des Besuchs auf ihr Handy. Miteinander gesprochen würde da nur wenig. Das sei bei ihr anders, «ausser der Kunde erwartet ein wichtiges Telefon, dann telefoniert er. Aber sonst wird ‹glaveret›». Sie erzähle jeweils von ihren Reisen oder von ihrer zweiten grossen Leidenschaft nebst dem Haareschneiden, dem Theater.

Zwei Kundinnen, welche gerade im Laden bedient werden, stimmt die baldige Pension von Hedy Leu traurig. «Hedy hat immer das beste aus mir herausgeholt. Jetzt muss ich die Haare wohl oder übel wachsen lassen – vielleicht entscheide ich mich einfach für ein ‹Bürzi›. Sowas hat mittlerweile ja fast jeder in meiner Familie». Eine andere Kundin fügt an: «Bei Hedy konnte man sich immer sicher sein, dass das Ergebnis gut herauskommt. Ich weiss noch nicht, was ich ohne sie machen werde».

Zukunftspläne geschmiedet

Wird nun wirklich am 24.12. das letzte Mal Haare geschnitten? «Ich habe zwei Kundinnen, welchen es gesundheitlich sehr schlecht geht. Die eine hat Parkinson. Die andere MS. Diesen beiden Kundinnen werde ich künftig zu Hause noch die Haare schneiden.» Im nächsten Winter aber, habe Hedy Leu dann eine grosse Reise nach Buenos Aires geplant. Sie wolle ein halbes Jahr durch Südamerika reisen.

Zuerst aber kosten sie die letzten Tage im Salon «Scheitelpunkt» noch ihre volle Energie. Die Agenda sei vollgepackt mit Terminen: «Viele Kunden und Kundinnen wollen sich noch einen letzten Haarschnitt von mir verpassen lassen». Nicht nur physisch anstrengend werden die letzten Tage für Hedy Leu als Coiffeuse, sondern auch emotional herausfordernd: «Ich hoffe, ich muss am letzten Tag nicht noch weinen».

veröffentlicht: 14. Dezember 2022 17:37
aktualisiert: 16. Dezember 2022 08:55
Quelle: BärnToday

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