Berner mit argentinischen Wurzeln

Nach WM-Sieg: «Es ist ein schöner Moment für die argentinische Bevölkerung»

· Online seit 19.12.2022, 16:19 Uhr
Martin Rauh ist als 25-Jähriger von Argentinien in die Schweiz ausgewandert und lebt seither in Bern. Im Breitenrain-Quartier betreibt er seinen eigenen Weinladen, das Casa Breitsch. Im Interview beschreibt er, wie er den argentinischen Triumph miterlebt hat und was für Auswirkungen der WM-Titel auf sein Herkunftsland haben könnte.
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Martin Rauh ist in einem kleinen Dorf in der argentinischen Provinz Misiones aufgewachsen. Mit 25 Jahren wanderte er in die Schweiz aus. Er lebt seither in Bern. Rauhs Grossvater war Deutscher.

BärnToday: Wie haben Sie den Weltmeistertitel gefeiert?

Martin Rauh: Ich habe erstmal eine Flasche Rotwein geöffnet, um etwas runterzukommen. Es war sehr emotional und wir waren alle ziemlich nervös.

Wie haben Sie das Spiel geschaut?

Die Argentinier haben alle ein Omen. Mein Omen ist, dass ich eigentlich kein Spiel anschauen darf, weil Argentinien sonst verliert. Und ich muss alleine sein. Ich habe nur noch die Penaltys geschaut, den Rest habe ich über einen Liveticker verfolgt – und bin dabei fast gestorben. Jeder hat ein Omen bei uns, manche schauen das Spiel beispielsweise bei ihrer Grossmutter. Agüero hat ja auch bei Messi übernachtet (Anm. d. Redaktion: Der ehemalige argentinische Fussballer Sergio Agüero hat in der Nacht vor dem WM-Final in Lionel Messis Hotelzimmer übernachtet). Jeder hat so ein Omen und man meint, man kann mit dem Omen das Resultat beeinflussen – was ja absurd ist.

Wissen Sie von Argentinierinnen und Argentiniern, die den Final hier in der Region zusammen geschaut haben?

Ja, es hat ein paar Gruppen. Eine hat sich hier in Bern beim Zytglogge getroffen. Es gibt Leute, die gerne auf einem Haufen sind, aber ich werde jeweils so nervös, dass ich das gar nicht kann.

Welche Bedeutung hat der Weltmeistertitel für Argentinien?

Argentinier sind krankhafte Fussball-Fans. Argentinien geht es ja wirtschaftlich nicht so gut, gerade jetzt auch mit fast 100 Prozent Inflation. Darum ist das schon ein schöner Moment für die Bevölkerung. Wenn sie verloren hätten, hätte es sicher wieder Supermarktplünderungen oder Ähnliches gegeben. Aber so werden wir ein schönes Jahresende erleben und feiern. Alles beruhigt sich dann wieder und am Ende ist nichts anders. Aber es sind schon schöne Zeiten.

Welche Bedeutung hat Fussball im Allgemeinen in Argentinien?

Das ist wie Religion – oder schlimmer. In Katar hat man es wieder gesehen: Da waren 40'000 oder 50'000 Argentinier. Die sparen zehn Jahre, um an eine WM gehen zu können. Jeder hat in Argentinien seinen Fussballclub und ist fanatischer Fan. Argentinier sind aber nicht nur im Fussball fanatisch. Bei den Autos war man Ford- oder Chevrolet-Fan. Im Fussball ist es Boca oder River (Anm. d. Redaktion: Boca Juniors und River Plate sind die populärsten Fussballvereine in Argentinien). Man trinkt entweder diese oder die andere Marke von Mate (Anm. d. Redaktion: Mate-Tee ist das Nationalgetränk Argentiniens). Wir sind ziemlich fanatische Menschen, muss ich sagen. Und Fussball ist, glaube ich, unser Hauptfanatismus. Das Schöne ist, dass es während der WM eine Art Einheit gibt. Am Anfang des Turniers hat es noch viele negative Stimmen, aber wenn es dann ums Gewinnen geht, vereinen sich alle kurz.

Was ist bei Ihren Verwandten und Bekannten in Argentinien nach dem Sieg abgegangen?

Ich habe während des Spiels Hunderte von Whatsapp-Nachrichten erhalten. Es fieberten alle wie verrückt mit. Wir wohnen in einem ganz kleinen Dorf. Da gab es Autokolonnen mit Hupkonzerten. Die meisten haben nach dem Spiel ein Grillfest gemacht. Manche auch schon vorher, damit sie etwas im Magen haben und ruhiger sind.

Welche Bedeutung hat Lionel Messi für die Argentinier?

Bis zum Copa-America-Titel letztes Jahr haben sich viele daran gestört, dass Messi immer etwas Distanz zum Geschehen gezeigt hat. In Argentinien wurde er «Pecho frío» genannt, das heisst «kaltbrüstig». Dies, weil er die Emotionen nicht so gelebt hat, wie die Argentinier das eigentlich gewohnt sind. Jetzt hat er sich etwas verändert. Er hat sich langsam etwas geöffnet und jetzt finden ihn die meisten Argentinier gut. Jetzt hat er sich meiner Meinung nach neben Diego Maradona hingespielt. Diego wurde ja auch extrem gehasst und geliebt. Die Argentinier pushen einen rauf und wenn man oben ist, zerren sie einen, bis man wieder unten ist. Das ist so eine schizophrene Haltung bei uns.

Könnte dieser Weltmeistertitel einen positiven Einfluss auf die angespannte Lage im Land haben?

Meistens gibt es vor Weihnachten Unruhen und das wird es dieses Jahr nicht geben. Demos, Streiks und ähnliche Dinge gibt es immer bei uns, aber ich glaube, dass es dieses Jahr keine Aufstände geben wird. Es ist wie ein Trostpflaster. Auf die Gemütslage der Bevölkerung wird sich der Weltmeistertitel positiv auswirken, aber auf die Wirtschaft sicher nicht.

Haben Sie in Ihrem Geschäft anlässlich des Titels etwas geplant?

Eigentlich noch nicht. Das ist etwas zu früh. Ich bin immer noch ziemlich kribbelig und habe noch keinen klaren Kopf. Wir werden sicher etwas machen, vielleicht nach Weihnachten. Ich weiss es aber noch nicht.

Erwarten Sie nun einen grösseren Andrang auf Ihren Laden?

Nein, die Schweizer fiebern zwar schon mit, aber sind etwas distanzierter. Es ist nicht so eine Verrücktheit wie bei uns. Wir sind an vielen Messen und vielleicht hat das nächstes Jahr an den Ständen einen Einfluss. Auf lange Sicht kann das eine Rolle spielen aber auf kurze Sicht macht das hier in der Schweiz keinen Unterschied.

veröffentlicht: 19. Dezember 2022 16:19
aktualisiert: 19. Dezember 2022 16:19
Quelle: BärnToday

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