Psychologie

Selbsthilfegruppen boomen, Profis braucht es aber auch in Zukunft

18.01.2023, 18:01 Uhr
· Online seit 18.01.2023, 17:39 Uhr
Selbsthilfegruppen sind beliebt wie lange nicht mehr. Bis zu 50'000 Schweizerinnen und Schweizer treffen sich regelmässig, um einander bei der Bewältigung persönlicher Herausforderungen zu unterstützen. Das Potenzial ist gross, Fachleute sind aber auch in Zukunft gefragt.
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Rund 2800 Selbsthilfegruppen gibt es heute in der Schweiz – Tendenz steigend. Allein im Jahr 2020 kamen 133 neue solche Gruppen dazu, wie die Stiftung Selbsthilfe Schweiz am Dienstag mitteilte. Das Themenfeld dieser Organisationen ist breit. Circa 300 verschiedene Themen sind auf der Stiftungs-Website verzeichnet, von A wie Apnoe bis Z wie Zöliakie. Das Prinzip ist überall das gleiche: Menschen treffen sich, um einander bei der Bewältigung ihres Alltags und im Umgang mit persönlichen Herausforderungen zu unterstützen.

Vor allem Frauen machen von der Selbsthilfe Gebrauch

Woran liegt es, dass sich immer mehr Schweizerinnen und Schweizer in der gemeinschaftlichen Hilfe organisieren? «Die psychischen Erkrankungen und die psychosozialen Probleme haben in den letzten Jahren in der Schweiz stark zugenommen», erklärt Lukas Zemp, Geschäftsführer von Selbsthilfe Schweiz. Zwei Drittel der Gruppen befassten sich denn auch mit gesundheitlichen und psychischen Problemen. Die Treffen böten eine niedrigschwellige und kostengünstige Ergänzung der sonstigen Therapie, wo Menschen sich gegenseitig austauschen und weiterhelfen könnten.

Der Psychologe Thomas Spielmann weist noch auf einen anderen Grund hin, weshalb die Selbsthilfegruppen in den vergangenen Jahren in der Schweiz an Attraktivität gewonnen haben: «Psychotherapeuten und Psychiater sind seit der Corona-Pandemie notorisch überlastet, die Wartezeiten sind lang, man findet kaum eine Fachperson.» Das habe zu einer Rückbesinnung auf die Gruppen geführt, die schon seit längerem bestehen.

Vor allem Frauen nehmen das Angebot der Selbsthilfegruppen wahr. 75 bis 80 Prozent sind es nach den Erfahrungen von Spielmann. Dagegen ist der Anteil der Männer klein. Auch Menschen mit Migrationshintergrund und Jugendliche seien in den 22 regionalen Selbsthilfezentren noch vergleichsweise selten anzutreffen, sagt Selbsthilfe Schweiz.

Das Ungleichgewicht hängt damit zusammen, dass die Treffen nicht überall gleich anerkannt seien. «Die Selbsthilfe-Kultur hat trotz ihrer Vorteile noch immer mit Vorurteilen und Klischees zu kämpfen», sagt Zemp. Thomas Spielmann erklärt, dass vor allem Männer mit einer anderen Mentalität an die Selbsthilfe herangehen: «Männer kommen, wenn die Gruppe zu ihrem spezifischen Problem passt, wenn sie sich davon eine konkrete Lösung erhoffen.»

Studien zeigen Wirksamkeit

Geht es nach Selbsthilfe Schweiz, sind die Vorteile bestechend. Für die Betroffenen seien die Treffen wirksam, wie verschiedene Studien herausgefunden haben. Eine im Herbst 2022 durch das Bundesamt für Gesundheit durchgeführte Literaturstudie zeige zudem auf, dass eine Förderung der Selbsthilfe auch zu Entlastungen des Sozial- und Gesundheitswesens und zu möglichen Kosteneinsparungen führen könne.

Trotzdem, so lautet der Vorwurf der Interessenorganisation, fehle in der Schweiz bis anhin eine gesetzliche Verankerung und Finanzierung der gemeinschaftlichen Selbsthilfe. Obwohl sich pro Jahr zwischen 45 und 50'000 Menschen in ihrem Rahmen treffen. Sarah Wyss, Basler SP-Nationalrätin und ehemalige Geschäftsführerin der Stiftung, reichte dazu 2021 eine Motion ein. Diese wurde im März 2022 vom Bundesrat zunächst abgelehnt. Die Motion soll nun dieses Jahr in der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit im Nationalrat behandelt werden.

Fachpersonen weiterhin gefragt

Die Selbsthilfe hat allerdings auch Grenzen. Bei schweren physischen und psychischen Erkankungen, die von Spezialisten behandelt und begleitet werden müssen, sei die Betreuung durch Fachpersonen weiterhin wichtig, so Lukas Zemp. Der Austausch in der Gruppe sei dann eine Ergänzung für Betroffene und Gleichgesinnte.

Für Thomas Spielmann liegt der Schlüssel für den Erfolg der Selbsthilfegruppen in der professionellen Moderation. Es brauche Profis, die sich mit den jeweiligen Themen auskennen, Erfahrung im Umgang mit Gruppen haben und im Fall der Fälle auch Hilfe leisten können. Hier sei der Bund gefragt, klare Regeln aufzustellen, wer Selbsthilfegruppen leiten darf. Ist das gewährleistet, ist der Psychologe überzeugt, können die Treffen einen enorm wertvollen Beitrag zur Bewältigung persönlicher und gesellschaftlicher Herausforderungen leisten.

(osc)

veröffentlicht: 18. Januar 2023 17:39
aktualisiert: 18. Januar 2023 18:01
Quelle: Today-Zentralredaktion

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