Billie Jean King Cup

Belinda Bencic: «Keiner muss seine Gefühle verstecken»

· Online seit 09.11.2022, 05:40 Uhr
Die Oberuzwilerin Belinda Bencic analysiert am Billie Jean King Cup in Schottland ihre Saison und spricht über ihren neuen Coach und die Hilfsbereitschaft der Menschen.
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Die Schweizerinnen und Sie speziell scheinen oft über sich hinauszuwachsen, wenn sie für die Schweiz spielen. Kann man das erklären?
«Es ist einfach so ein Gefühl. Wenn ich für mich selber spiele und gewinne, ist das natürlich auch ein tolles Gefühl, aber im Team sind die Emotion einfach nochmals grösser. Man spielt dann auch für die anderen, und wir haben so eine tolle Chemie in unserem Team. Ich weiss, das klingt klischeehaft, aber es ist wirklich so, und das macht einfach viel aus. Mich beflügelt das auf dem Platz, und ich hoffe, das bleibt so.»

Sie sind bekannt als emotionale Spielerin. Hilft das Team speziell, diese Emotionen auszuleben oder auch in einem positiven Sinn zu kanalisieren?
«Wenn man alleine spielt und ein bisschen down ist, dann ist das so. Wenn eine im Team in ein Tief gerät, können wir anderen sie immer noch wieder etwas hochziehen. Man kann sich gegenseitig helfen. Das ist wie im Doppel: Wenn einer eine schlechte Phase hat, kann der andere helfen und vielleicht noch etwas besser spielen und umgekehrt. Das ist in der ganzen Woche so, auch im Training. Wir können auch über alles reden, keiner muss seine Gefühle verstecken. Man kann offen sagen, wenn man sich schlecht fühlt oder sehr nervös ist, dann helfen die anderen. Ich denke, das macht es aus.»

Es sind nur zwei Spielerinnen aus den Top 12 hier. Nehmen andere den Teamwettkampf weniger ernst?
«Es ist halt eine Frage der Prioritäten. Das Datum ist schon heikel, alle sind müde, die Verletzungsgefahr wird dadurch noch grösser. Es ist also keine einfache Woche und braucht viel Energie. Für mich hat es einfach eine mega hohe Priorität. Ich liebe es, für mein Land zu spielen, für dieses Team zu spielen. Das war schon bei den U12-Europameisterschaften so, bei Olympia und im Fed Cup (früherer Name des Billie Jean King Cups). Ich habe immer gespielt, ausser wenn ich verletzt war. Das ist für mich ein Privileg.»

Sie werden das Jahr als Nummer 13 der Welt beenden. Das ist nicht schlecht, aber es fehlt ein Exploit wie letztes Jahr mit dem Olympiasieg. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
«Ich würde auch sagen, es war ein gutes Jahr, auch wenn es sich nicht mega so anfühlt. Ich habe ein Turnier auf Sand gewonnen, das war super, habe in Miami die Halbfinals erreicht. Es war ein solides Jahr, aber es war nicht unglaublich. Ich habe aber eigentlich mehr erwartet von mir.»

Der Wermutstropfen sind vor allem die Grand-Slam-Turniere.
«Genau. Da kam ich nicht über die 3. Runde hinaus. Anderseits ist das auch positiv für nächstes Jahr. So kann ich noch mehr aus mir herausholen. Aber die Weltnummer 13 zu sein, ist ja wirklich nicht schlecht. Die Motivation ist jedenfalls voll da, mich noch weiter zu verbessern. Ich habe noch viele Ziele und jetzt auch einen neuen Trainer, der mir sicher noch viele neue Sachen zeigen kann. Das ist sehr cool. Ich bin sehr froh, dass er sich entschieden hat, mit mir zu arbeiten.»

Der neue Trainer ist Dimitri Tursunow. Wissen Sie schon, was sich konkret ändern wird?
«Wir sind immer noch in der Kennenlernphase. Wir werden die Details noch besprechen. Aber er hat eine sehr logische Sichtweise und möchte, dass man alles sehr vereinfacht. Das Denken im Frauentennis ist ja sehr anders als im Männertennis. Es würde sehr helfen, wenn er mir das klarere Denken auf dem Platz beibringen könnte.»

Weil Frauen emotionaler sind?
«Ja, ich denke schon. Frauen sind ja in vielen Dingen komplizierter (lacht). Sie machen sich mehr Gedanken, sind oft am ‹Übernachdenken›, und das sollte man im Tennis nicht. Da hoffe ich, dass er mir da helfen kann. Das braucht Zeit, aber ich bin ja immer noch erst 25, ich habe diese Zeit. Es ist vieles gut, aber ich will nicht stehen bleiben. Ich will nicht mit dem zufrieden sein, was ich erreicht habe, sondern nochmal all-in gehen und alles versuchen.»

Tursunow ist Russe, in Paris haben Sie mit der Ukrainerin Angelina Kalinina Doppel gespielt. Haben Sie Reaktionen auf seine Verpflichtung erhalten?
«Nein, eigentlich nicht. Es ist in dieser Zeit natürlich sehr politisch, aber er ist ja nicht verantwortlich für alles. Es ist im Moment mit allen, Ukrainern oder Russen, schwierig, wie man sich verhalten soll. Ich habe auch nicht mit ihm darüber gesprochen. Er ist im Moment der beste Trainer für mich. Ob er nun Chinese, Russe oder Amerikaner ist, spielte keine Rolle. Er lebt ja in den USA, seit er zwölf Jahre alt war.»

Sie haben vorhin das Team angesprochen. Werden Sie beim neuen United Cup Anfang Jahr in Australien dabei sein?
«Ja, wir werden da spielen. Das Team ist noch nicht definitiv, aber Stan (Wawrinka), Hüsler, Stricker werden dabei sein. Ich finde es cool, das ist endlich ein echter Mixed-Wettkampf.»

Die Russen dürfen dabei nicht mitspielen, trotzdem gibt es WTA- und ATP-Punkte. Ist das nicht ein Widerspruch dazu, dass Wimbledon die Punkte entzogen wurden, weil es die Russen ausschloss?
(lacht) «Ganz ehrlich, in Tallinn durften Russinnen auch nicht spielen, trotzdem gab es Punkte. Es gibt viele Sachen auf der WTA Tour, wo man sich fragen kann, ob das richtig ist. Man kann über vieles diskutieren, aber manchmal muss man Sachen einfach so annehmen, wie sie sind. Und: Sie können parallel ein 500er-Turnier spielen, wo sie Punkte erhalten. Wahrscheinlich ist das der Grund.»

Sie sind oft in ihrer zweiten Heimat Bratislava. Die Slowakei grenzt an die Ukraine. Spüren Sie einen Unterschied, wie der Krieg dort wahrgenommen wird im Vergleich zur Schweiz?
«Die Slowakei hat extrem viel geholfen. Als es begann, kamen Frauen mit Babies und kleinen Kindern, und es war Winter. Ein fünfjähriger Bub kam alleine über die Grenze. Die Slowaken haben unlimitiert alle aufgenommen und geholfen, für sie Unterkünfte zu finden. Viele Geflüchtete sind inzwischen aber auch wieder zurückgegangen. Ich finde es mega schön, wie Menschen sich in solchen Zeiten gegenseitig helfen. In dem Moment geht es nicht um Politik, sondern um die Person, die jetzt gerade da ist. Und ich denke, die Schweiz ist da genau gleich. Meine Grosseltern sind ja auch geflüchtet, mein Papi war damals fünfjährig. Mein Grosspapi und Grossmami bekamen sofort Jobs in der Schweiz. Und sie haben mir erzählt, wie sehr ihnen die Nachbarn geholfen haben, zum Beispiel mit Winterkleidern. Eigentlich sind die Menschen schon gut zueinander.»

veröffentlicht: 9. November 2022 05:40
aktualisiert: 9. November 2022 05:40
Quelle: sda

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