Von Zürich nach Berlin

Ein kleines Abenteuer: So war meine erste Fahrt im Nachtzug

23.01.2023, 14:19 Uhr
· Online seit 22.01.2023, 16:25 Uhr
Viele Wege führen nach Berlin. Die meisten habe ich schon ausprobiert: mit dem Flugzeug, dem ICE, mit einer Mitfahrgelegenheit, einmal (!) mit dem Flixbus. Heute fahre ich zum ersten Mal im Nachtzug von Zürich nach Berlin. Eine kleine Geschichte von einem grossen Abenteuer.
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Es ist Montagabend, 20.30 Uhr. Etwa eine halbe Stunde bevor die Fahrt beginnt, bin ich am Perron. Der Zug steht schon abfahrbereit und ich checke mein Ticket – Wagen 305. «Der ist ganz vorne», sagt mir ein Zugbegleiter, als ich ihm mein Ticket zeige. Ich gehe also am Bahnsteig entlang und checke jede Wagennummer. 220, 225, 230 … Mein Wagen kommt noch lange nicht. Ich wusste gar nicht, dass ein Bahnsteig so lang sein kann.

Abends am Bahnsteig

Während ich also zu meinem Wagen gehe, fällt mir rechts am Bahnsteig eine Gruppe auf – zwei Männer, zwei Frauen, alle sitzen sie auf einer Bank nebeneinander. Die Gruppe wirkt gut gelaunt, etwas aufgekratzt. Man hört sie laut lachen. Das mag auch an der Flasche Wein liegen, welche sie sich reihum reichen. Ich schätze die Vier etwa auf das Alter meiner Eltern. Ob sie auch nach Berlin fahren? Und sind das wohl zwei Paare? Vielleicht auch Schulfreunde. Egal, denke ich, gehe weiter und fokussiere mich wieder auf die Wagennummern.

Mittlerweile bin ich fast ganz vorne am Perron angelangt. Kurz vor meinem Wagen beobachte ich ein Paar; sie mit einem grossen Koffer, er ohne Gepäck. Die beiden umarmen sich innig und er gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie wirken vertraut und der Abschied scheint ihnen schwerzufallen. Wann die sich wiedersehen? Vielleicht führen sie eine Fernbeziehung?

Eine letzte Zigarette, bevors losgeht

Mittlerweile bin ich angekommen am Wagen mit der Nummer 305, steige aber noch nicht ein. Bis der Zug abfährt, dauert es noch gute 15 Minuten. Ich bin noch lang genug da drin, denke ich mir und zünde eine Zigarette an. Der Zigarettenrauch mischt sich mit dem Geruch von Cannabis. Ich blicke mich um und sehe ganz am Ende vom Perron, dort, wo es nicht mehr überdacht und dunkel ist, zwei Gestalten, die einen Joint rauchen. Ich muss grinsen. Das ist ein smarter Ort zum Kiffen. Bestimmt ist auch dem Zugpersonal der Geruch nicht entgangen, was dieses aber nicht zu stören scheint. Ich höre ein lautes Pfeifen und werde aus meinen Gedanken gerissen. In wenigen Minuten geht die Fahrt los. Zeit für mich einzusteigen.

«Hey, ich bin Zoe!»

Als ich die Schiebetür zu meinem Abteil aufziehe und in den schmalen Gang trete, ist eine der sechs Liegen schon belegt. «Hey, ich bin Zoe», stellt sich meine Abteilgenossin vor und lächelt freundlich. Wir werden eine gute Zeit haben, sagt mir mein Bauchgefühl, noch bevor wir viele Worte miteinander gewechselt haben. Zoe sitzt auf der unteren Liege. Die Mittlere hat sie umgeklappt, sodass sie sitzen kann. Mein Bett ist auf der anderen Seite in der Mitte. «Nächstes Mal musst du auch eine untere Liege buchen, die sind viel praktischer», sagt sie und klopft neben sich aufs Polster. «Setz dich doch!»

Zoe erzählt, dass sie regelmässig mit dem Nachtzug zwischen Berlin und Zürich pendelt. Sie hat – genau wie ich – in Berlin gelebt und ist letztes Jahr nach Zürich gezogen. Wir unterhalten uns über Berlin und Zürich, darüber, wo wir so unterwegs sind und was wir an Berlin vermissen. Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Pünktlich. Es dauert nicht lange, da klopft der Zugbegleiter an unsere Tür und will die Tickets sehen. Er scannt diese aber nicht, wie man das sonst von Zugbegleitern gewohnt ist. Nein, er fragt nach unseren Namen und hakt diese auf einer Liste ab. Wie lustig, denke ich mir. Das erinnert mich an eine Klassenfahrt. Wir haben Glück; der Zug ist nicht ausgebucht. Der Zugbegleiter sagt, dass nur noch eine Person in Frankfurt in unser Abteil zusteigen wird. Jackpot.

Der nächste Halt ist Basel. Und schon die erste Verspätung, 40 Minuten. Warum? Keine Ahnung. Ich frage den Zugbegleiter, der mir aber auch keine Antwort geben kann. «Das ist normal», sagt Zoe. «Der Zug hat immer mindestens ein bis zwei Stunden Verspätung.»

Früh buchen lohnt sich

Unsere Plätze sind in einem 6er-Damenabteil. Ich war eher spät dran mit Buchen – etwa zwei Wochen vor der Fahrt. Die Angebote am Wochenende waren bereits ausgebucht, weshalb ich die nächstmögliche Verbindung von Montag auf Dienstag wählte. Alle Plätze in den Viererabteilen waren schon weg. So konnte ich noch wählen zwischen einem Platz im 6er-Wagen gemischt oder in einem Frauenwaggon. Ich wählte den Frauenwagen und habe 79 Euro bezahlt für mein Ticket. Ich hätte weniger gezahlt, wenn ich früher gebucht hätte. Im Preis inbegriffen ist ein kleines Frühstück, eine dünne Decke, ein Kissen und ein Laken, das über die Liege gespannt werden kann.

Kein Luxus, aber gemütlich

Zoe und ich beziehen unsere Liegen und machen uns langsam bettfertig. Duschen gibt es in unserem Angebot keine. Da hätte man die Luxusvariante buchen müssen – ein privates Zweierabteil. Dann hätte man aber auch mehr als doppelt so viel bezahlen müssen. Pro Wagen gibt es zwei Toiletten – eigentlich sehr wenig. Gerade zu den Stosszeiten am Abend und morgens nach dem Aufstehen dürfte es da bestimmt eine recht lange Schlange geben.

Ich lege mich hin und schlafe erstaunlich schnell ein. Obwohl die Liege nicht wirklich bequem und sehr eng ist, fühle ich mich wohl. Es ist gemütlich und ich mag das Gefühl, vom fahrenden Zug in den Schlaf gewogen zu werden. Über meine Ohropax bin ich dennoch froh, denn es ist laut.

Zwischenstopp: Frankfurt

Mitten in der Nacht werde ich aus dem Schlaf gerissen, als die Tür zu unserem Abteil aufgeht. Es ist dunkel, ich bin verpennt und es dauert einen Moment, bis ich realisiere, dass wir in Frankfurt sein müssen und die Frau, die plötzlich mitten im «Zimmer» steht, unsere Mitfahrerin ist. «Endlich nach Hause», sagt sie und seufzt. Aus ihrem Rucksack ragt ein langer Gegenstand, mit dem sie bei jeder Bewegung irgendwo anschlägt. In der Dunkelheit erkennt man nicht, was da aus ihrem Rucksack ragt. Zoe ist ebenfalls aufgewacht und bricht die Stille. «Bist du Schornsteinfegerin?», fragt sie und lacht. Nein, die «Neue» ist keine Schornsteinfegerin. Sie stellt sich kurz vor, sagt, dass sie seit vielen Jahren in Berlin wohnt und gerade ihre Eltern in Frankfurt besucht habe. Das Teil in ihrem Rucksack ist ein Staubfänger – ein Geschenk der Mutter. «Mütter», ergänzt sie und verdreht die Augen.

«Die Neue» scheint ebenfalls eine erfahrene Nachtzug-Fahrerin zu sein: In wenigen Minuten richtet sie ihr Bett ein und es kehrt wieder Ruhe in unserem Abteil ein. Als ich das nächste Mal aufwache, ist es kurz nach 8 und ich schrecke auf. Wir hätten vor einer halben Stunde in Berlin sein müssen. Ich erkunde mich beim Zugbegleiter und er sagt mir, dass wir sicher noch eine bis anderthalb Stunden unterwegs sein dürften. Zum Glück habe ich keine Termine in Berlin.

Berlin Hauptbahnhof – drei Stunden Verspätung

Wir erreichen Berlin mit einer Verspätung von drei Stunden. Eine knappe Stunde vor Ankunft kommt eine Zugbegleiterin, bringt Frühstück und bittet uns, die Betten abzuziehen. Das Frühstück besteht aus zwei Brötchen (die recht trocken sind), einem Stück Butter, Marmelade und einem Kaffee. Kein Luxusfrühstück, aber gar nicht mal so schlecht.

Trotz Verspätung und des doch recht hohen Ticketpreises, den ich bezahlt habe, steige ich mit einem guten Gefühl aus dem Zug aus. Zum einen, weil ich tatsächlich deutlich besser geschlafen habe als erwartet, aber auch, weil ich glücklich bin, hier in Berlin zu sein. Für mich steht fest: Das war die erste, aber mit Sicherheit nicht die letzte Fahrt im Nachtzug.

veröffentlicht: 22. Januar 2023 16:25
aktualisiert: 23. Januar 2023 14:19
Quelle: ArgoviaToday

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