Ukrainer über Krieg

«Bauen von Molotowcocktails wurde zur netten Familien-Aktivität»

01.11.2022, 15:27 Uhr
· Online seit 01.11.2022, 11:39 Uhr
Mitte Februar hielt der junge Ukrainer Dmytro einen Einmarsch der russischen Truppen noch für unmöglich. Acht Monate später verlässt er die Trümmer seiner Heimat nicht nur mit zerbombten Träumen – er wurde auch reifer.
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Vor dem Krieg trank man noch aus den Wodka-Flaschen die Sorgen weg, heute wirft man diese in Form von Molotowcocktails aus Sorge weg – um die Russen fernzuhalten. «Die Herstellung von Tarnnetzen und Molotowcocktails wurde zu einer netten, familienfreundlichen Aktivität», erzählt der junge Ukrainer Dmytro.

In einem ersten Gespräch Mitte Februar wirkte der junge Mann gelassener – von Panik keine Spur. Nur eine Woche später marschierten die Russen ein und zogen eine Spur der Zerstörung mit sich. Der Anfang der Invasion glich dem Weltuntergang, erzählt Dmytro gegenüber der Today-Redaktion.

Quelle: Dmytro

Doch Monate später streifte man die Angst wieder ab. Viele hätten wieder begonnen, Musik, Kunst oder Memes zum Thema Krieg zu produzieren. «Das hat uns vereint. Vereint durch Trauer, Hass und Liebe.»

Der 24. Februar 2022 – ein endloser Tag

Eine halbdunkle Wohnung, das Plätschern des Wassers, eine halb volle Badewanne. Man solle immer etwas für Notfälle aufbewahren, erinnert sich Dmytro. Sein Vater habe ihn am 24. Februar geweckt und gesagt, er habe Explosionen gehört. Putin habe eine Militäroperation gestartet. Die Familie entschloss sich, die Stadt zu verlassen. «Dies war wahrscheinlich der erschütterndste Moment meines Lebens», sagt Dmytro. Eine Brieftasche, das Handy, Kopfhörer, ein Messer und ein kleines Buch – mit diesem Gepäck fing ein neues Leben für ihn an. «Draussen rannten alle mit ihren Koffern, alle sahen so verzweifelt aus.» Er flüchtete aus Kiew in ein weiter weg gelegenes Dorf – den Namen wollte er aus Selbstschutz nicht verraten.

Ein riesiger Informationsfluss und jede Menge Falschinformationen

An dem Tag klebte wohl die ganze ukrainische Bevölkerung am Handy. Jeder sei online gewesen, habe minütlich die Nachrichten abgegrast und Nachrichten verschickt. «In den ersten Stunden des Krieges waren die Menschen von Angst erfüllt.» Luftangriffe, Jets, vorbeifliegende Raketen – das sei für alle eine neue Erfahrung gewesen. «Meine Bildschirmzeit an diesem Tag betrug etwa 18 Stunden. Der 24. Februar schien endlos zu sein.»

Der Krieg spielte sich nicht nur auf den Strassen ab, sondern auch in den sozialen Medien und in den Nachrichten. Jemand habe Leute angeheuert, Markierungen und Vorrichtungen auf dem Trottoir zu hinterlassen, erzählt Dmytro. Dann wurde behauptet, dies seien Punkte, an denen russische Raketen einschlagen würden. Die Ukrainer hätten daraufhin getobt und versucht, die Markierungen zu verdecken. Alle, die eine Sprühdose hatten, bekamen grossen Ärger, erinnert sich der junge Ukrainer. Es begann eine regelrechte Schnitzeljagd nach diesen Markierungen, jeder wollte seinem Land helfen, so Dmytro.

Alle wollen Cookies – der Tauschhandel wurde wieder populär

Irgendwann wurden die Lebensmittel knapp und die Leute mussten schon früh im Laden erscheinen, um ein kleines Stück Käse, Wurst und etwas Kaffee zu bekommen. Geld spielte keine Rolle mehr – es wurde wieder getauscht wie früher. Eine Packung Toilettenpapier für ein wenig Reis. «In unserem Dorf gab es weder Brot noch Hefe, also assen wir eine Zeit lang einfaches Mehl mit Wasser – gekocht in einer Pfanne», sagt Dmytro. Vor allem Kekse waren sehr begehrt und erhielten plötzlich Goldstatus.

Mutmassliches Massaker in der Region Kiew

Am 8. März flüchteten Dmytro und seine Familie aus dem für sicher geglaubten Dorf, als die Artillerie auch diese Ziele traf. Damals hätten die Russen Streubomben eingesetzt, erzählt Dmytro. Raketen seien über sein Haus geflogen. «Ich habe versucht, mir einzureden, dass ich nicht sterben werde, aber ich habe mich mit der Tatsache abgefunden, dass ich in ein paar Sekunden nicht mehr existieren könnte.» Vor allem aber hatte der Ukrainer Angst davor, unter russischer Besatzung zu enden. «Sie haben 10 Kilometer von mir entfernt, in besetzten Dörfer, Menschen hingerichtet», so Dmytro.

Er verliess vor einem Monat die Ukraine, um im Ausland zu studieren. Von seiner Familie hört er immer wieder, dass die russischen Angriffe von Tag zu Tag zunehmen. Die Russen würden billigere Waffen einsetzen wie iranische Drohnen und alte Raketen aus sowjetischen Beständen. Die Drohnen seien leicht zu treffen. «Eine Drohne wurde von einem Polizisten abgeschossen und sie klingen wie ein billiges Motorrad.» Das Problem sei, dass sie explodieren, wenn sie fallen. Deshalb dürfe man keine Drohnen zwischen Hochhäusern abschiessen.

Vom Krieg gezeichnet – zum Mann gereift

«Das Leben gab mir eine Chance zu leben und ich werde sie nicht vergeuden», resümiert Dmytro. Für ihn sei es nun einfacher, wichtige Entscheidungen zu treffen. Er habe grossen Respekt vor den Menschen, die ihn beschützt haben – «vor jedem einzelnen Soldaten der ukrainischen Armee und ich werde sie nicht im Stich lassen.»

veröffentlicht: 1. November 2022 11:39
aktualisiert: 1. November 2022 15:27
Quelle: PilatusToday

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