«Ich habe Angst, mein Handy anzufassen», sagt der 30-jährige Amir aus der Hafenstadt Tyros im Südlibanon. Zwei Tage in Folge wurde das Land am Mittelmeer von Explosionswellen zahlreicher technischer Geräte erschüttert - mutmasslich von Israel koordiniert. Viele Menschen befinden sich in einem Schockzustand.
«Die Schmerzensschreie der Menschen, das Heulen der Sirenen der Krankenwagen, das hat mich fertiggemacht», sagt Amir. Auf der Strasse laufe er jetzt von der anderen Seite so weit entfernt wie möglich. Zu Autos halte er Abstand, «für den Fall, dass sich in einem Auto ein Gerät befindet, das explodieren könnte».
Bei den Explosionen zahlreicher technischer Geräte wurden am Dienstag und Mittwoch nach offiziellen Angaben rund 3'000 Menschen verletzt und 37 getötet. Unter den Opfern sollen viele Hisbollah-Mitglieder sein, aber auch Zivilisten. Nach Behördenangaben wurden mindestens zwei Kinder getötet.
«Situation der Menschen ist katastrophal»
Auch unter den Anhängern der Hisbollah sitzt der Schock tief. «Meine Schwester stand neben ihrem Ehemann, als plötzlich sein Pager explodierte. Sie hat ihr Auge verloren», erzählt eine Frau im südlichen Vorort der libanesischen Hauptstadt Beirut. Sie unterstützt den Kampf der Hisbollah gegen Israel und möchte lieber anonym bleiben.
«Die Situation der Menschen, die wir behandelt haben, ist katastrophal», sagt Bahaa Noureddine, Chef-Augenarzt am amerikanischen Universitätsklinikum in Beirut. Seit Dienstag habe er über 40 Operationen an Verletzten vorgenommen. 25 stünden noch aus. «Die meisten der Verletzten leiden unter Schock», sagt er.
Auch die Angehörigen stünden unter Schock: «Sie können nicht glauben, dass ihre Familienmitglieder binnen weniger Sekunden blind geworden sind, einen Arm oder Finger verloren haben», sagt Noureddine. Die meisten der von ihm behandelten Verletzten befänden sich im Alter zwischen 20 und 35 Jahren. «Darunter waren auch einige Frauen», sagt er.
Bevölkerung ist tief traumatisiert
Bisher ist nicht klar, wie viele der Verletzten und Opfer Mitglieder der Hisbollah waren. Aus libanesischen Sicherheitskreisen hiess es, die Miliz sei stark getroffen. Ein Grossteil der Opfer gehöre demnach der Schiitenorganisation an.
Der alltägliche Stresszustand der Bevölkerung sei generell sehr hoch, hatte Libanons Gesundheitsminister Firas Abiad schon vor den Ereignissen der vergangenen Tage gesagt. Besonders betroffen sei der Bereich der mentalen Gesundheit.
«Die libanesische Bevölkerung ist im Laufe der Jahre und insbesondere seit der Hafenexplosion am 4. August 2020 immer verletzlicher geworden», sagt der Facharzt für Psychiatrie, Elio Sassine. «Die Explosionen werden das Leid der Bevölkerung verschlimmern und sie in einen Zustand der Depression und des Schocks versetzen.»
«Wir sind erschöpft»
Seit fast einem Jahr befindet sich das Land in einem Schwebezustand. Schon oft stand der Libanon seitdem an der Schwelle zu einem offenen Krieg mit dem Nachbarland Israel.
Denn seit Beginn des Kriegs im Gazastreifen zwischen Israel und der islamistischen Hamas vor fast einem Jahr kommt es zwischen der Hisbollah und dem israelischen Militär nahezu täglich zu militärischen Konfrontationen - vor allem im libanesisch-israelischen Grenzgebiet. Tote gibt es auf beiden Seiten.
Die meisten von ihnen waren Mitglieder der Hisbollah. 110.000 Menschen aus dem libanesischen Grenzgebiet mussten nach UN-Angaben fliehen und sich in Sicherheit bringen.
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«Unsere Gefühle sind taub»
Die proiranische Schiitenmiliz hatte kurz nach Beginn des Gaza-Kriegs ihre sogenannte «Solidaritätsfront» gegen Israel eröffnet. Sie handelt nach eigenen Angaben aus Solidarität mit der islamistischen Hamas im Gazastreifen. Sie will ihre Angriffe erst einstellen, wenn die «Aggressionen gegen Gaza und das palästinensische Volk» aufhören.
«Wir sind erschöpft», sagt die Studentin Nour aus dem südlichen Vorort Beiruts. «Seit Monaten kommen wir nicht zur Ruhe», sagt sie. In Erwartung israelischer Angriffe habe sie gemeinsam mit ihrer Familie schon öfter ihr Zuhause für mehrere Wochen verlassen müssen.«Jetzt müssen wir auch noch Angst vor unseren Handys haben», sagt die 24-Jährige. «Erst hatten wir grosse Angst vor einem Krieg, jetzt sind unsere Gefühle nur noch taub.»
(sda)