Welttag der psychischen Gesundheit

Berner Psychologe zum Thema Depression: «Scham abbauen ist wichtig»

· Online seit 10.10.2023, 17:54 Uhr
Jede fünfte Person erkrankt mindestens einmal im Leben an einer Depression. Obwohl die Krankheit eigentlich gut behandelbar wäre, schweigen viele Betroffene aus Scham oder Angst vor Stigmatisierung. Das niederschwellige Angebot «Stepped Care» des Psychiatriezentrums Münsingen soll helfen. Psychologe Timur Steffen klärt auf.
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BärnToday: Am Dienstag ist der Tag der psychischen Gesundheit. Wie wichtig ist nach wie vor die Sensibilisierung?

Timur Steffen: Die Sensibilisierung trägt dazu bei, dass eine Enttabuisierung in der Gesellschaft stattfinden kann. Dass Menschen merken, dass es viele psychische Erkrankungen gibt. Dass auch Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen davon betroffen sein könnten und niemand davor geschützt ist. Und dass es, wenn es so weit ist und jemand wirklich unter einer psychischen Erkrankung leidet, viele Wege und Möglichkeiten gibt, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wenn wir einander helfen wollen, müssen wir diese aber auch zu kennen.

Wie äussern sich depressive Symptome?

Eine Depression hat viele Gesichter. Die Symptome könnten eine Person im Alltag, vor allem im Privaten einschränken. Eine andere Person könnte vielleicht eher im beruflichen Bereich tangiert sein. Sie will sich am Morgen die Decke über den Kopf ziehen, nicht aufstehen und nicht arbeiten gehen. Die dritte Person könnte sich sozial zurückziehen, will niemanden mehr sehen und hören. Und eine vierte Person könnte über andere Verhaltensweisen die Depression zu kompensieren versuchen, weil sie sich so sehr über sich selbst aufregt, nicht mehr weiterkommt und plötzlich zu Substanzen greift.

Wichtig ist herauszufinden, ob es «nur» ein vorübergehendes Gefühl ist, oder wirklich eine Depression.

Was ist «Stepped Care» genau?

Bei diesem flexiblen Angebot ist die Idee, die erste Stufe niederschwellig zu gestalten. Einfach zugänglich, zum Beispiel soll man per Mail anfragen können. Schnell wollen wir den Betroffenen dann Möglichkeiten in Form von Lösungs- und Behandlungsvorschlägen aufzeigen.

Beim nächsten Schritt geht es darum, die Behandlung zu intensivieren. Je nach dem ob das jemand nötig hat. Manche Betroffene benötigen keine Psychotherapie, bei einigen reicht es, wenn sie sich gute Literatur über das Thema beschaffen und darüber lesen. Zusammenfassend ist das Ziel von «Stepped Care», die Behandlung den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten anzupassen.

Was sind die Vorteile von «Stepped Care»?

Klar, die Einfachheit. Wir wollen keine Hürden. Für viele Patienten ist es nicht mit ihrem Alltag vereinbar, in regelmässigen Abständen für Gesprächssitzungen nach Münsingen zu kommen. Sie wohnen sehr abgeschieden, stecken mitten in einer Ausbildung oder müssen Beruf und Familie unter einen Hut bringen. Damit auch sie professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen können, bieten wir Sitzungen nicht nur vor Ort an, sondern auch per Telefon und Video-Call.

Ausserdem wollen wir so auch die Hausärztinnen und Hausärzte entlasten und Ihnen Hilfestellungen bieten.

Bei normalen Angeboten müssen Betroffene direkt zu einer Praxis hin, obwohl viele sich das aus einem Schamgefühl heraus nicht trauen. Und da wollen wir mit unserem Angebot Hand bieten.

Können Sie ein Beispiel aus dem Alltag mit «Stepped Care» nennen?

Einmal hatte ich eine Anfrage eines Mannes, der mich fragte, ob er ein Erstgespräch per Video-Call machen dürfte. Er wollte sich aber nicht zeigen, liess die Kamera ausgeschaltet, wollte nur mich sehen. Ihm war es primär wichtig, anonym über seinen Zustand zu sprechen. Nach kurzer Zeit jedoch merkte er, es geht, und zeigte sein Gesicht dann doch noch. Das Beispiel veranschaulicht, dass wir mit «Stepped Care» Hemmschwellen abbauen können und mit einem einfachen, unkomplizierten Zugang herausfinden können, ob die Art Hilfe von uns für die Patienten passt oder nicht.

Wieso ist Schamgefühl wegen einer Depression noch immer Thema in der heutigen Zeit?

Generell sind psychische Erkrankungen in der Gesellschaft noch immer noch ein Tabu. Obwohl schon viel weniger als früher und es da auch einen erfreulichen Trend gibt.

Im Sprachgebrauch werden manche Ausdrücke im Zusammenhang mit der Psyche immer noch im negativen Sinne verwendet. Zum Beispiel ‹Der muss eingeliefert werden› oder auch ‹Du bist Psycho› sind solche Redewendungen. Wer will schon gern in eine psychische Klinik? Auch aus Filmen kennt man dass, dass psychische Krankheiten eher negativ behaftet sind.

Unser Ziel ist es, die Scham abzubauen. Aufzuzeigen, dass hinter den Angeboten Menschen stecken, die diese umsetzen. Und die Behandlungen sind normal, menschlich und sie helfen. Und wir wollen diese für die Menschen annehmbar machen.

veröffentlicht: 10. Oktober 2023 17:54
aktualisiert: 10. Oktober 2023 17:54
Quelle: BärnToday

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