Schweiz

Warum der Kindermangel in der Schweiz eine wachsende Sorge ist

Sinkende Geburtenrate

In der Schweiz herrscht «Kindermangel» – und das ist ein ernstes Problem

· Online seit 15.05.2024, 13:52 Uhr
Die Geburtenrate geht fast überall auf der Welt zurück, und zwar schneller als erwartet. Die Schweiz ist dabei keine Ausnahme und könnte deshalb trotz Zuwanderung bald einen Bevölkerungsrückgang erleben. Warum das keine gute Nachricht ist.
Alberto Silini / watson
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«Die Welt steht an einem überraschenden demografischen Wendepunkt», warnte das «Wall Street Journal» am Montag. Der Grund: Die Zahl der Geburten sinkt rapide. Und das «fast überall». «Ein Zusammenbruch», der viel schneller und weiter verbreitet sei als erwartet – und der weitreichende wirtschaftliche, soziale und geopolitische Auswirkungen haben könnte, warnt die US-amerikanische Tageszeitung.

Ein Beweis dafür ist, dass die globale Fruchtbarkeitsrate – ein Index, der die durchschnittliche Anzahl der Kinder pro Frau angibt – bald zu niedrig sein wird, um eine sogenannte natürliche Erneuerung der Bevölkerung zu ermöglichen. Um dies zu erreichen, darf die Rate nicht unter 2,2 fallen (2,1 in den entwickelten Ländern).

Im Jahr 2017 lag die weltweite Fruchtbarkeitsrate bei 2,5 Kindern pro Frau. Damals schätzten die Vereinten Nationen, dass sie bis Ende der 2020er-Jahre 2,4 erreichen würde. Bis 2021 war sie jedoch bereits auf 2,3 gesunken. Nach Schätzungen des «Wall Street Journal» könnte sie nun unter 2,2 liegen.

«Kindermangel» in der Schweiz

Der Rückgang ist insbesondere in der Schweiz sichtbar, wo die Geburtenrate Ende der 1960er-Jahre unter diese Schwelle fiel und heute bei 1,3 Kindern pro Frau liegt. «Hierzulande bekommen die Paare immer weniger Kinder», bestätigt Philippe Wanner, Demograf an der Universität Genf. «Wir haben eine Situation des Mangels.»

Der Experte weist jedoch darauf hin, dass es sich bei der Quote von 2,1 um «eine theoretische Grenze» handelt, da sie die Migration nicht berücksichtigt.

Die Migration trägt also dazu bei, den Rückgang der Geburten auszugleichen. Diese Situation wird jedoch nicht ewig anhalten, prognostiziert der Demograf. «Die Schweiz zieht derzeit viele Ausländerinnen und Ausländer an, weil sie die lokale Migration begünstigt und hohe Löhne bietet. Aber dieser Migrationsstrom wird möglicherweise versiegen», erklärt er.

Der Grund dafür ist, dass sich unsere Nachbarn «in einer fortgeschritteneren demografischen Situation befinden als wir», fährt Philippe Wanner fort. «Deren Bevölkerung hat bereits begonnen zu schrumpfen, und ihr natürliches ‹Saldo› ist negativ, was bedeutet, dass die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze steigt.»

«Die Situation ist ernst»

Die Gefahr eines demografischen Rückgangs in der Schweiz ist also real, sagt Philippe Wanner. «Vorerst wächst die Schweizer Bevölkerung weiter. Kurzfristig wird dies auch weiterhin der Fall sein, aber ab 2035 bis 2040 dürfte sich das ändern», fügt er hinzu.

Die Folgen eines solchen Szenarios dürfen nicht unterschätzt werden. «Der demografische Rückgang führt in erster Linie zu einem Mangel an Arbeitskräften», erklärt Philippe Wanner. «Wenn die Bevölkerung schrumpft, drängen weniger junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Irgendwann werden sie nicht mehr in der Lage sein, die älteren Arbeitnehmer, die in den Ruhestand gehen, zu ersetzen». Und der Demograf weist darauf hin, dass die Rentnerinnen und Rentner «noch viele Jahre lang leben und konsumieren werden».

Das Resultat: «Eine zunehmende Verarmung der Bevölkerung. Die steigende Zahl der Menschen in Rente treibt die Sozialversicherungsbeiträge in die Höhe, aber auch die der Erwerbstätigen.» Darüber hinaus «führt diese Situation auch zu einem Rückgang des Wachstums, da die Arbeitnehmer nicht mehr in der Lage sind, genügend zu produzieren».

Eine private Angelegenheit

In vielen Ländern betrachten die Behörden dies als eine Angelegenheit von nationaler Dringlichkeit. Jüngstes Beispiel ist der Ende Januar von Emmanuel Macron angekündigte Plan zur «demografischen Aufrüstung», mit dem der Geburtenrückgang in Frankreich bekämpft werden soll.

Mehrere Regierungen haben ähnliche Programme aufgelegt. Bislang ist es ihnen allerdings nicht gelungen, die Dinge in Bewegung zu bringen, schreibt das «Wall Street Journal». «Diese Erfahrungen zeigen, dass es sehr schwierig ist, die Geburtenrate willentlich zu verändern, und dass auch eine sehr grosszügige Geburtenpolitik nicht unbedingt funktioniert», bestätigt Philippe Wanner.

So etwas ist in der Schweiz noch nie versucht worden – und das aus gutem Grund. «In der Schweiz gilt die Familie als Privatsache, und der Staat sollte sich nicht in das Reproduktionsverhalten der Bevölkerung einmischen», erklärt der Demograf. «Aus diesem Grund verfolgen die Schweizer Behörden auch keine Fertilitätspolitik mit dem klaren Ziel, die Kinderzahl zu erhöhen.»

Wenn der Anreiz mit Geld nicht funktioniert, so könne die Schaffung eines familienfreundlichen Umfelds effektiver sein, glaubt Wanne. Auch in der Schweiz: «Der Staat und die Unternehmen könnten auf dieser Ebene intervenieren: die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern, eine vorteilhafte Steuerpolitik vorschlagen, Ermässigungen auf ÖV-Preise anbieten, den Zugang zu Kinderkrippen verbessern», zählt er auf. Dem Demografen zufolge sind dies derzeit hierzulande alles Fallstricke, die zum Rückgang der Geburtenrate beitragen.

Zusammenfassend fordert Philippe Wanner dazu auf, «den Kindern den ihnen zustehenden Platz in der Gesellschaft zurückzugeben». Die Situation ist dringend: «Wenn die Geburtenrate sinkt, ist es schwierig, wieder ein Gleichgewicht herzustellen», sagt er abschliessend.

Aus dem Französischen von watson.ch/fr übersetzt.

veröffentlicht: 15. Mai 2024 13:52
aktualisiert: 15. Mai 2024 13:52
Quelle: watson.ch/fr

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