Bern

«Es gibt eine gewisse Nostalgie für den Schnee»

Uni-Professor

«Es gibt eine gewisse Nostalgie für den Schnee»

01.02.2023, 10:07 Uhr
· Online seit 01.02.2023, 08:54 Uhr
Jon Mathieu ist emeritierter Professor und Gründungsdirektor des «Istituto di Storia delle Alpi» an der Università della Svizzera italiana. Er erklärt, wie wichtig Berge und Schnee für die Schweiz sind – auch für Leute im Ausland.
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Kann man im Zusammenhang mit Bergen und Schnee von einem Schweizer Identitätsmerkmal sprechen?

Das ist schwierig zu sagen. In der Schweiz leben viele Leute mit verschiedenen Hintergründen und Erfahrungen. Wer heute 20 Jahre alt ist, wird die Abnahme an Schnee, die wir seit rund 40 Jahren erleben, als weniger stark empfunden haben als beispielsweise jemand, der in den 60er-Jahren aufgewachsen ist. Damals hatten wir noch ganz andere Schneemengen. Ich selbst gehöre eher zur zweiten Gruppe Menschen.

Gibt es aber eine Art nostalgische Erinnerung an den Schnee?

Ich denke, man kann schon sagen, dass es eine gewisse Nostalgie gibt für den Schnee. Ich würde dabei aber nicht von einem Schweizer Gefühl sprechen. Es gibt beispielsweise auch Leute aus Deutschland, die viele Jahre lang in der Schweiz Ferien gemacht haben. Ich habe gerade den Fall eines Politologen aus Dortmund vor Augen, der eine sehr interessante Untersuchung gemacht hat zu abgestellten Skiliften im Zusammenhang mit Schneemangel. Als man ihn gefragt hat, warum er als Deutscher über Schweizer Schnee forsche, erklärte er, als Kind sei er immer im Wallis in den Ferien gewesen, weshalb ihn der Schneemangel direkt berühre. Deshalb: Ja, es gibt vielleicht verbreitete nostalgische Gefühle, man sollte sich dies aber nicht als rein schweizerische Angelegenheit vorstellen.

Wie steht es, um die Schweiz als Wintersport-Nation?

Der Wintersport hat sich natürlich massiv verändert. In den 80er-Jahren haben wir im Graubünden gelebt und mir kam es so vor, als würde jedes Jahr ein neuer Wintersport erfunden werden. Heute haben wir dafür in den grossen Resorts Pisten, die eigentlich schon fast Autobahnen sind im Vergleich zu früher. Viele Leute in der Schweiz betreiben Wintersport und für viele Leute ist dies auch eine Kindheitserinnerung. Wenn, wie in diesem Jahr, jeweils der November und Dezember ganz ausfallen und erst der Januar etwas winterlicher wird, macht das schon etwas mit den Menschen.

Würden Berge auch ohne Schnee ein attraktiver Ort bleiben?

Wenn man Berge weltweit anschaut, sieht man, dass es viele verschiedene Arten von Bergen gibt. Einige sind sehr hoch, haben aber keinen Schnee, weil es an diesen Orten nur wenig Niederschlag gibt. Auch solche Berge haben eine Attraktivität. Berge sind von Weitem sichtbar, haben verschiedene Formen und Farben, unterschiedliches Klima und andere Winde. Auf den Alpen haben wir Schnee, weil es ein relativ niederschlagreiches Gebiet ist. Aber auch wenn wir uns die Alpen schnee- und gletscherfrei vorstellen, was wir uns natürlich nicht wünschen, denke ich, dass sie immer noch attraktiv wären.

Berge sind kein ungefährlicher Ort. Warum faszinieren sie viele Menschen trotzdem?

Es gibt tatsächlich diesen potenziellen Widerspruch: Berge sind gefährlich, aber dennoch attraktiv. Viele Leute suchen auch bewusst diese Gefahr. Beispielsweise im Alpinismus, den es seit rund 200 Jahren gibt und auch heute immer stärker zunimmt. Alpinisten wurden immer verrückter, plötzlich gab es Solo-Climber und Speed-Climber: Offensichtlich kann auch die Gefahr eine Form von Attraktion sein. Früher waren die Alpen auch ein Terrain für Landwirtschaft und vor allem auch Viehwirtschaft, was in einer ganz frühen Phase in den vielen Wäldern des Unterlands gar nicht möglich war. Das war also potenziell gutes Land. Erst mit der Mechanisierung der Landwirtschaft wurde es schwieriger, in den Alpen Landwirtschaft zu betreiben.

veröffentlicht: 1. Februar 2023 08:54
aktualisiert: 1. Februar 2023 10:07
Quelle: BärnToday

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