Ultra Cycling

Vize-Weltmeisterin Pulver: «Man muss auf eine gewisse Art verrückt sein»

· Online seit 16.11.2022, 16:21 Uhr
Die Bernerin Isa Pulver hat an der Ultra-Cycling-WM den zweiten Platz erreicht. Dies, obwohl sie noch in diesem Jahr eine Hirnblutung hatte. Im Interview spricht sie über die Leidenschaft für ihren Sport und ihren Weg zurück.
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Wie sind Sie zum Ultra Cycling gekommen?

Ich bin eine Quereinsteigerin. Bis vor zehn Jahren hatte ich nicht viel mit Velofahren zu tun, ausser vielleicht um zur Arbeit zu fahren oder um meine Kondition zu verbessern. Als Physiotherapeutin habe ich viel mit Menschen im Rollstuhl zu tun, die täglich an ihre Grenze gehen. So habe ich mir auch überlegt, wo meine eigenen Grenzen sind und was mich motiviert, an Grenzen zu kommen. Gleichzeitig hatte ich auch Kontakt zu einer Person, die viel Velo gefahren ist. So habe ich darüber nachgedacht, wo denn beim Velofahren die Grenzen sind für einen durchschnittlichen Menschen. Das hat mich motiviert, am ersten Ultra-Cycling-Rennen teilzunehmen.

An solchen Rennen sitzt man teilweise über 24 Stunden auf dem Fahrrad, ohne zu schlafen. Muss man auch etwas verrückt sein für diesen Sport?

Auf eine gewisse Art schon. Mann muss sicher Freude haben, an die eigenen Grenzen zu gehen und Limiten zu spüren. 24 Stunden ist eigentlich sogar eher ein Sprint. Oft dauern die Rennen über mehrere Tage.

Wie schafft man so etwas überhaupt?

Bei mir ist sicher Erfahrung ein wichtiger Teil. Ich merke mittlerweile, was machbar ist. Ausserdem ist gutes Material wie ein gut eingestelltes Velo und der passende Sattel zentral. Weiter musst du einen Plan haben für die Ernährung: Du verbrennst sehr viele Kalorien, die du wieder einnehmen musst. Wenn die Rennen über 24 Stunden dauern, ist es auch wichtig, zu wissen, was du tust, wenn du müde wirst. Bei Schlafkrisen arbeite ich persönlich viel mit Koffein: Im Alltag verzichte ich bewusst auf Kaffee, sodass Koffein bei Bedarf möglichst gut wirkt.

Sie hatten vor wenigen Monaten eine Hirnblutung. Danach konnten sie eine Zeit lang keinen Sport treiben. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Die Diagnose hat mich wie ein Schlag getroffen. Ich hätte wenige Tage nach der Diagnose eigentlich ins Trainingslager fahren wollen. Es war auch eine besondere Situation, weil ich mich als Physiotherapeutin normalerweise um Patienten kümmere und plötzlich war ich selbst die Patientin. Dann musste ich einige Tage auf der Überwachungsstation bleiben, wo man gar keine Bewegung hat. Ich musste erstmal damit klarkommen, nur im Bett zu liegen und mich nicht bewegen zu dürfen.

Was waren Ihre grössten Ängste in dieser Zeit?

Ich arbeite als Physiotherapeutin in der Neurologie und wusste deshalb, was ein Hirnschlag bedeuten kann. Deshalb habe ich mich auch gefragt, ob ich jemals als Fussgängerin zurückkommen werde und dann natürlich auch, ob ich wieder Velofahren können würde. Das hat mich stark belastet.

Mittlerweile nehmen Sie wieder an Rennen teil. Gibt es nie Momente, in denen Sie sich fragen, warum Sie sich das antun?

Seit der Hirnblutung ist mir noch bewusster geworden, dass es überhaupt nicht selbstverständlich ist, dass man eine Bewegung wie Velofahren ausüben kann. Umso glücklicher war ich, als ich wieder fahren konnte. Deshalb frage ich mich nicht, warum ich es mache, sondern bin einfach glücklich, dass ich es machen kann.

Nehmen Sie sich seit der Hirnblutung auch eher zurück?

Nein. Die Ärzte haben mir von Dingen wie Bodybuilding abgeraten, wo die Maximalkraft wichtig ist. Aber das ist sowieso nicht mein Bereich. Ich trainiere wirklich die Ausdauer. Deshalb mache ich alles wieder wie vorher. Ich merke auch, dass ich keine Beschwerden mehr habe. Zu Beginn waren Kopfschmerzen noch das Problem. Ich war auch in Italien an einem Rennen, bei dem ich im Vorfeld entschieden hatte, dass ich aufgeben würde, sobald ich den Kopf gespürt hätte. In diesem Fall wäre ich ins Begleitauto gestiegen. Ich konnte aber das Rennen schliesslich fertigfahren. Seither ist auch der Kopf wieder wie vorher.

Hätten Sie es für möglich gehalten, so erfolgreich wieder Ultra Cycling betreiben zu können?

Nein, das hätte ich nicht erwartet. Beim Austritt aus dem Spital habe ich die Ärztin gefragt, ob ich ein Rennen einen Monat später bereits absagen sollte. Sie meinte, ich solle noch warten, obwohl ich selbst nicht gedacht hätte, dass ich in der Lage sein würde, wieder zu starten. Das Okay der Ärzte hat mich aber motiviert, es zu versuchen. Nun konnte ich in dieser Saison viele gute Resultate erzielen, wie der zweite Platz an der WM. Das hätte ich so nicht erwartet.

Wie hat es sich angefühlt, den Weltrekord im 24-Stunden-Fahren zu brechen?

Das war unglaublich. Als wir den Weltrekordversuch in Thun organisiert hatten, wusste ich, dass ich Vollgas geben musste, um diesen zu brechen. Am Rand der Strecke habe ich den Rundenzähler gesehen und gewusst, dass ich nur noch abliefern muss. Schade war nur, dass ich nach 12 Stunden wegen eines Gewitters eine Pause einlegen musste. Den Rekord habe ich aber trotzdem geschafft und das war ein unglaubliches Gefühl.

Welche Ziele haben Sie noch für die Zukunft?

Ich habe schon viel erreicht, aber es gibt immer noch Ziele. Es gibt viele Rennen, bei denen du schon nur ins Ziel kommen muss, um etwas zu schaffen, was vielleicht nur 500 andere Leute auf der Welt geschafft haben. Das sind Hammergefühle.

(raw/pfl)

veröffentlicht: 16. November 2022 16:21
aktualisiert: 16. November 2022 16:21
Quelle: BärnToday

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