Tabuthema

Ophelia wurde nur zwei Jahre alt – ihre Eltern wollen, dass darüber gesprochen wird

10.09.2023, 16:30 Uhr
· Online seit 09.09.2023, 16:31 Uhr
Das Leben von Ophelia war kurz – nach nur knapp zwei Jahren mussten die Eltern Abschied von ihrer Tochter nehmen. Der Tod eines Kindes sei auch heute noch ein Tabuthema, sagen sie. Mit ihrem Verein wollen sie das ändern.
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«Ophelia ist bei uns im ganzen Haus – ihre Hülle gibt es nicht mehr, aber ihre Seele ist überall spürbar. Ihr Zimmer und ihr Bett sind immer noch da und auch ihre Urne steht bei uns in der Wohnung», sagt Lukas Bissegger, der Vater von Ophelia.

Schockierende Diagnose nach elf Monaten

Ophelia kam im Mai 2021 zur Welt. Sie war ein gesundes Kind und machte ihren Eltern Nathalie Hofer und Lukas Bissegger aus Langenthal viel Freude. Bei einer regulären Kontrolle beim Kinderarzt nach neun Monaten wurde festgestellt, dass sich der Kopfumfang sprungartig vergrössert hatte. Bei einer Nachuntersuchung im März 2022 wurde dann ein sehr seltener und äusserst aggressiver Hirntumor diagnostiziert.

Ophelia musste notoperiert werden. Danach bekam sie eine Chemotherapien, anschliessend wurde ihr Kopf bestrahlt. Nach einer speziellen Behandlung am Paul-Scherrer-Institut war der Tumor auf den MRI-Bildern tatsächlich verschwunden. «Sechs Wochen haben wir Freude gehabt. Am 6. Oktober 2022 haben wir aber bei einem weiteren MRI gesehen, dass die Metastasen in Kopf, Hirnhaut, und Wirbelsäule so weit fortgeschritten waren, dass man Ophelia nicht mehr helfen konnte», sagt Vater Lukas.

Die Nachricht sei schwierig gewesen, aber auch nicht ganz überraschend gekommen, sagt Mutter Nathalie. Sie hätten immer gewusst, dass die Heilungschancen sehr gering seien. «Es war schwierig, aber es hat mir nicht den Boden unter den Füssen weggerissen», sagt sie. «Wir wussten nun, dass die Lebenszeit unserer Tochter limitiert war. Wir gingen nach Hause und genossen die verbleibende gemeinsame Zeit mit Ophelia.»

«Du darfst jetzt gehen»

Die folgenden fünf Monate seien sehr belastend, aber auch sehr schön gewesen, sagen die Eltern. Sie hätten im Moment gelebt, sich nicht zu viele Gedanken gemacht und die Zeit als Familie genossen. Ophelia habe während fast der ganzen Zeit eine gute Lebensqualität gehabt. Am 20. März 2023 erlitt sie einen Schlaganfall, drei Tage später sei sie dann gestorben, sagt Vater Lukas. «Sie durfte so gehen, wie wir uns das gewünscht hatten: nicht auf der Intensivstation im Spital, sondern zu Hause bei uns in unserem Bett. Sie lag die letzten Stunden auf uns. Und weil wir mit der Situation im Reinen waren, konnten wir sagen: Wir danken dir für die Zeit, du darfst jetzt gehen.»

Ophelia starb am 23. März 2023, morgens um Viertel nach Zehn. Draussen hörte man die Vögel pfeifen – etwas, was ihrer Tochter immer viel bedeutet habe, erzählen die Eltern. «Für uns war der Moment sehr traurig, gleichzeitig aber auch schön und erleichternd», sagt Lukas und Nathalie ergänzt: «Für uns ist Ophelia nicht gegangen. Sie ist physisch nicht mehr da, aber mit ihrer Seele ist sie nach wie vor ganz nahe bei uns.»

Offener Umgang mit der Situation wichtig

Die Eltern von Ophelia sind mit dem Tod ihrer Tochter immer sehr offen umgegangen – auch nach aussen und gegenüber ihrem Umfeld. «Die Leute haben uns gesagt, dass es ihnen sehr guttut, mit uns zu sprechen», sagt Nathalie.

Das habe ihr gezeigt, dass sich die Menschen in ihrem Umfeld auch Sorgen machten, aber nicht so genau wussten, wie sie ihnen begegnen und damit umgehen sollten. «Wenn wir proaktiv auf die Leute zugegangen sind, ist das Eis gebrochen. Wir haben sie oft einfach in die Arme genommen und konnten ihnen so diese Angst nehmen», sagt Nathalie.

«Wir machen etwas aus dieser Geschichte»

Bald nach dem Tod ihrer Tochter war für die Eltern klar, dass sie «etwas machen wollen". In einem Workshop unter professioneller Leitung haben sich Lukas und Nathalie entschieden, dass sie sich für die Enttabuisierung des Kindstodes in der Gesellschaft einsetzen möchten. Deshalb haben sie begonnen, die Geschichte von Ophelia öffentlich zu machen. «Uns beiden geht es nicht darum, selber im Rampenlicht zu stehen. Wir möchten einfach, dass man offen über das Thema sprechen kann», sagt Nathalie.

Sie hätten sehr viele positive Reaktionen auf ihre Ideen bekommen, sagen Nathalie und Lukas. Viele Leute hätten auch gefragt, wie sie das Vorhaben finanziell unterstützen könnten. Das habe dazu geführt, dass sie den Verein «Ophelia's Legacy» gegründet hätten. «Mit dem Verein können wir über unsere Tätigkeiten informieren und das ganze Projekt finanziell unabhängig organisieren», sagt Nathalie.

«Wenn es etwas gibt, was alle Menschen auf der Welt verbindet, dann ist es die Tatsache, dass wir alle sterben müssen – früher oder später – und wenn wir nicht darüber sprechen, dann macht es das ganz sicher nicht besser», sagt Lukas. Das sei für sie Ansporn und Motivation, ihre Geschichte zu erzählen und ihre Erfahrungen weiter zu geben. «Wie gehe ich als Eltern mit einer so schlimmen Diagnose um? Wie kann ich ein todkrankes Kind begleiten? Wie gelingt es mir trotzdem, ein glückliches Leben zu führen? Über solche Fragen muss viel mehr gesprochen werden», erklären die Eltern.

«In unserem Spitalzimmer lief immer Musik»

Während der Zeit, in der Ophelia sehr viel im Spital sein musste, habe Musik eine sehr wichtige Rolle gespielt, erzählt Lukas. Im Krankenzimmer sei immer Musik gelaufen und es habe eine gute Stimmung geherrscht. Vor allem die Songs von Patent Ochsner hätten sie durch diese Zeit begleitet, erklärt der Vater. Er selber ist auch Musiker und er hat seine Erlebnisse und Erfahrungen in einem eigenen Song verarbeitet. «Viu zfrüeh gange» wird aktuell professionell aufgenommen und produziert und soll schon bald veröffentlicht werden. «Auf dem musikalischen Weg kann man Gefühle ganz anders rüberbringen. Der Text funktioniert aber nicht nur für mich, sondern auch für andere Menschen in ähnlichen Situationen», sagt Lukas.

Grosse Veränderungen im Leben der Eltern

Der Tod von Ophelia hat das Leben der Eltern stark verändert. Vater Lukas hat durch diese Erlebnisse gemerkt, dass er einen Neustart braucht und hat seinen Job gekündet. Etwas neues hat er bis jetzt nicht angenommen. Das Projekt «Ophelia's Legacy» beschäftige ihn aber im Moment sehr stark, sagt er. Auch das Leben von Nathalie hat sich verändert. Die Trauerarbeit sei sehr wichtig und noch immer nicht abgschlossen. Sie habe da auch professionelle Unterstützung in Anspruch genommen. Die Ereignisse hätten ihr aber auch gezeigt, dass man im Leben für die kleinen Dinge dankbar sein sollte.

Neues Leben ist unterwegs

Nathalie ist wieder schwanger. Dafür seien sie als Eltern sehr dankbar, sagt sie. Natürlich sei diese Schwangerschaft aber anders. «Ich bin nicht mehr so unbeschwert wie beim ersten Kind, und ich habe Ängste. Ich gehe aber offen damit um und lasse mein Umfeld an meinen Gefühlen teilhaben», sagt sie.

«Wir sind heute geerdet und es geht uns gut. Das war nicht immer so – aber heute kann ich das so sagen», sagt Lukas. «Wir wollen nicht missionieren und wollen niemanden von unserem Weg überzeugen. «Ophelia's Legacy» ist unsere Art, mit der unserer Geschichte umzugehen. Wenn wir dabei anderen Menschen etwas mitgeben können, freut uns das sehr»

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veröffentlicht: 9. September 2023 16:31
aktualisiert: 10. September 2023 16:30
Quelle: 32Today

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