LGBTQI+

«Transgender Day of Remembrance»: Wie tolerant ist die Schweiz?

20.11.2023, 21:43 Uhr
· Online seit 20.11.2023, 17:52 Uhr
Der 20. November ist der offizielle «Transgender Day of Remembrance». Ein internationaler Gedenktag, an dem trans Menschen, die Opfer transphober Gewalttaten geworden sind, gedacht und auf diese Problematik aufmerksam gemacht wird. Doch wie aufgeklärt ist eigentlich die Schweiz?
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Der «Transgender Day of Remembrance» ist ein jährlich stattfindender Gedenktag am 20. November. Initiiert wurde er von Gwendolyn Ann Smith, einer trans Frau, die als Grafikdesignerin, Kolumnistin und Aktivistin in San Francisco arbeitet. Anlass für die Erschaffung des Gedenktages war der Mord an Rita Hester in Allston im November 1998. Über den Mord an der afro-amerikanischen trans Frau, die in ihrer Wohnung erstochen wurde, gab es nahezu keinerlei Berichterstattung, der Fall gilt bis heute als ungeklärt. Smith gründete als Reaktion darauf das Internet-Projekt «Remembering Our Dead», aus dem später zu Ehren von Rita Hester der internationale «Transgender Day of Remembrance» hervorging.

So tolerant ist die Schweiz

Einer, der in der Schweiz für die Rechte von trans Menschen kämpft, ist Henry Hohmann. Wenn man ihn fragt, wie tolerant er die Schweiz heutzutage empfindet, erhält man folgende Antwort: «Ich denke, die Schweiz hat sich in den letzten Jahren unglaublich weiterentwickelt.»

Hohmann sieht aber auch Ambivalenzen in den unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft. «Ich würde sagen, dass trans sein früher ein wirkliches Tabu war, über das man am besten überhaupt nicht gesprochen hat und das sehr negativ bewertet worden ist. Heutzutage ist es völlig anders. Unter jungen Menschen spielt das Thema Geschlechtsidentität keine grosse Rolle mehr, respektive man spricht frei darüber, wie man sich identifiziert – ich finde, da hat es eine riesige Öffnung gegeben, insbesondere bei der jungen Generation. Ich denke aber auch, dass das Thema auf dem Land oder auch im kirchlichen Umfeld noch nicht ganz angekommen ist oder etwas anders diskutiert wird.»

Mehr Unterstützung – aber auch mehr Hass

In der Schweiz sei zu dem ein Backlash zu spüren. Errungenschaften für queere Menschen würden von der Gesellschaft zunehmend kritisch gesehen. Hohmann erklärt: «Wir merken immer mehr Unterstützung und Support, auf der anderen Seite nimmt aber auch Hass und Unverständnis gleichermassen zu.» Diese Auffassung teilt auch die aktuelle Geschäftsleitung des Transgender Networks Switzerland. «Die Erfahrungen von trans Menschen sind sehr unterschiedlich. Erfreulicherweise hören wir von vielen positiven Erfahrungen, leider sind aber auch Diskriminierung und Gewalt noch allgegenwärtig», bestätigt Jurist Alecs Recher.

Grosse Entwicklung – aber noch viel Potenzial

Aus der Sicht von Recher hat sich in den letzten zwanzig Jahren so einiges getan in der Schweiz. «Den grössten Fortschritt hat die trans Community selbst gemacht mit der zunehmenden Sichtbarkeit und dem Mut vieler trans Personen, sich selbst sein zu wollen. Relevant waren dazu aber auch der Aufbau von Beratungs- und Unterstützungsangeboten und dass trans heute nicht mehr als psychische Störung angesehen wird. Rechtlich war der wichtigste Erfolg, dass trans Personen heute nicht mehr zu Sterilisation gezwungen werden, sondern selbstbestimmt ihren Geschlechtseintrag ändern können.»

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Auch Hohmann, der 1962 in Deutschland geboren wurde und mittlerweile seit über zwanzig Jahren in der Schweiz lebt, sieht eine grosse Veränderung. «In der Tat hat die Schweiz in den letzten zehn bis zwanzig Jahren grosse Schritte im Bezug auf trans Personen gemacht, in erster Linie auf gesellschaftlichem Gebiet. Es ist erstaunlich, dass es inzwischen ein sehr hohes öffentliches Bewusstsein für das Thema gibt und dass dies in den letzten Jahren auch kontinuierlich gestiegen ist. Früher war das ‹T› in LGBTQI+ immer nur mitgedacht, aber noch nicht sichtbar. Inzwischen ist es ganz klar, wenn man über queere Themen redet, dass trans immer einen wichtigen Punkt dabei bildet.»

Die Politik hat eine lange To-Do-Liste

Wenn es um politischen Handlungsbedarf geht, sind sich Hohmann und Recher einig: Die Schweiz muss nicht binäre Geschlechtsidentitäten anerkennen. Recher fordert zudem einen umfassenden Diskriminierungsschutz und die diskriminierungsfreie Anerkennung von trans Eltern. «Vor allem aber braucht es eine Politik, welche die Anliegen von trans Menschen wie die von anderen marginalisierten Gruppen immer mitdenkt und nicht über uns, sondern mit uns redet.»

Laut Hohmann wäre – was den Geschlechtseintrag angeht – auch eine andere «revolutionärere» Option möglich. «Die Schweizerische Ethikkommission hat vor ein paar Jahren in einem Bericht hinterfragt, warum es überhaupt einen Geschlechtseintrag braucht, wenn er so vielen Menschen so viel Mühe bereitet und sie sozusagen unsichtbar macht, weil es ihren Geschlechtseintrag nicht gibt. Die Ethikkommission schlug daraufhin vor, die Schweiz solle doch den Geschlechtseintrag einfach streichen.» Für Hohmann ist klar: «Wir brauchen nicht die amtliche Bestätigung des Geschlechtes, das wir haben. Wir wissen selbst, welches wir haben.»

Kinder, Alter, Gesundheit und Sichtbarkeit

Handlungsbedarf gibt es aber auch abseits vom politischen Parkett. «Es braucht Möglichkeiten, trans Kinder als solche aufwachsen zu lassen, ohne rechtliche Hemmnisse. Auch das Thema trans Menschen im Alter ist wichtig. Viele Institutionen sind auf dieses Thema schlecht vorbereitet. Hier muss noch sehr getan werden für die Sichtbarkeit von trans Menschen. Nicht zuletzt ist auch die Gesundheit von trans Menschen ein wichtiges Thema, bei dem noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden muss», hält Hohmann fest.

Hate Crimes sind omnipräsent

Am heutigen «Transgender Day of Remembrance» wird Opfern transphober Gewalttaten, insbesondere den 320 trans Personen, die weltweit zwischen Oktober 2022 und September 2023 ermordet wurden, gedacht. Die Entwicklung dieser Gewalttaten beobachtet Recher mit grosser Sorge. Denn: «Hate Crimes sind immer sowohl ein Angriff auf die Person als auch ein Angriff auf die ganze Community.»

Hohmann spricht von einer «unglaublichen Zunahme von Hass und Gewalt gegenüber trans Menschen» in der Schweiz. «Im vergangenen Jahr wurden 134 LGBTQ-feindliche Angriffe gemeldet – so viele wie noch nie. Ein Drittel dieser Meldungen stammt von trans oder nichtbinären Menschen, obwohl sie prozentual einen viel kleineren Anteil in der Community bilden. Die Dunkelziffer ist gross.» Diese Feindlichkeit und Gewalt müsse in Zukunft verhindert werden.

Am 20. November 2023 finden weltweit unzählige Gedenk-Aktionen statt. Dies auch in der Schweiz, unter anderem mit einer Platzkundgebung in Bern und Basel sowie einer Mahnwache in Zürich.

veröffentlicht: 20. November 2023 17:52
aktualisiert: 20. November 2023 21:43
Quelle: ArgoviaToday

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