Marlen Reusser blickt auf eine exzellente erste Jahreshälfte zurück. Die Bernerin, die mit 25 erst spät zum Radsport kam, startete in den letzten Monaten regelrecht durch. Nach einer hervorragenden Klassiker-Saison mit dem Sieg bei Gent-Wevelgem und einem 3. Platz bei Lüttich-Bastogne-Lüttich bewies sie auch in den Etappenrennen, dass sie längst nicht mehr nur eine ausgezeichnete Zeitfahr-Spezialistin ist. Sie gewann im Mai die Baskenland-Rundfahrt und triumphierte einen Monat später auch an der Tour de Suisse.
Keine Zeit zum Feiern
Für Reusser war der Moment da, «um etwas herauszunehmen, zu feiern und zu geniessen, nach all diesen Erfolgen und all dem, was ich dafür investiert habe. Es war sehr viel harter Arbeit verbunden.» Doch dafür blieb kaum Zeit. Schliesslich stand mit der Tour de France Femmes, die am Sonntag in Clermont-Ferrand beginnt, das wichtigste Rennen im Frauen-Kalender an. Und im August folgt mit der WM in Glasgow bereits das nächste Highlight.
Für die mehrfache Medaillengewinnerin bei Grossanlässen war es eine spezielle und neue Situation, wenn der Kopf nach Erholung ruft, der Rennkalender aber den Trainingsalltag diktiert. «Deshalb musste ich mich darin üben, mich selber zu fangen und mich zu motivieren, gleich weiter zu fahren, obwohl nicht der gleiche Elan dahinter war wie sonst.»
Als Helferin gefragt
Das mentale Tief hat die 31-jährige Emmentalerin mittlerweile überwunden. «Jetzt freue ich mich auf die Tour, genau so, wie sie ist, nämlich ohne Druck», sagt sie. Von ihr werde nicht viel erwartet, ausser, dass sie das Team unterstütze. «Das ist genau das, was ich brauche, um wieder rein zu finden.»
Für Reusser geht es in den nächsten Tagen primär darum, ihren niederländischen Teamkolleginnen Demi Vollering und Lorena Wiebes zum Erfolg zu verhelfen. Vollering gilt als Anwärterin auf den Gesamtsieg, Wiebes als aktuell beste Sprinterin der Welt. Reusser versichert: «Ich werde mich voll reinhängen.»
Das Zeitfahren als Ziel
Ihre eigenen Ambitionen muss die Schweizerin im Team SD Worx vorerst wieder hintanstellen. Erst am letzten Tag, einem Einzelzeitfahren in Pau, bietet sich ihr die Möglichkeit, auf eigene Rechnung zu fahren. «Das ist sicher ein Ziel für mich. Da werde ich alles geben», sagt die Olympia-Zweite von Tokio, die vor einem Jahr die 4. Etappe der Frankreich-Rundfahrt gewann, ehe sie zwei Tage später nach einem Sturz aufgeben musste.
Sorgen um ihre aktuelle physische Form macht sich Reusser keine, ganz im Gegenteil: «Die ist sehr herausragend im Moment, war wahrscheinlich noch nie so gut - eine lustige Diskrepanz, wenn man es mit meinem Lustpegel vergleicht.»
(sda)