Nahost-Konflikt

«Verlust jeglicher Würde» – wie Menschen mit Behinderungen in Gaza leiden

15.02.2024, 15:02 Uhr
· Online seit 15.02.2024, 13:02 Uhr
Menschen mit Behinderungen haben es im Kriegsalltag besonders schwer. In Gaza leben mehr als 400'000 beeinträchtigte Menschen. Danila Zizi von Handicap International erzählt, wie schlimm die Situation in Nahen Osten ist und wie Menschen mit Behinderungen geholfen wird.
Anzeige

BärnToday: Laut Ihrer Organisation leben in Gaza mehr als 400'000 Menschen mit Behinderungen. Wie schlimm ist die Situation vor Ort?

Danila Zizi: Wir können die Situation vor Ort nicht nur mit Zahlen beschreiben. In den vergangenen Monaten haben uns immer wieder Familienangehörige und Betreuer gebeten, sie beim Evakuieren zu unterstützen. Leider konnten wir nicht immer helfen. Die Mitarbeitenden von humanitären Organisationen haben keine sicheren Zugänge in den Gazastreifen. Die Menschen mit Behinderungen sind dem Krieg hilflos ausgeliefert. Nur mit ihren Betreuern schaffen sie es, von Organisationen wie Handicap Internationen Hilfe zu erhalten.

Was sind die täglichen Herausforderung für Menschen mit Behinderungen in Gaza?

Die Menschen stehen schon um fünf Uhr morgens Schlange für Lebensmittel und Wasser. Die Strassen sind zerstört, sodass man sich nicht frei bewegen kann. Der Zugang zu den Gesundheitsdiensten und zur Toilette ist daher für beeinträchtige Menschen praktisch unmöglich. In den Notunterkünften gibt es oft nur eine Toilette pro 200 Personen. Die Leute stehen stundenlang an. Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen, die sich nicht beherrschen können, befinden sich in einer bedrückenden Situation. Der Verlust jeglicher Würde ist derzeit in Gaza allgegenwärtig.

Wie schwierig ist die Kriegssituation für Angehörige und Familien von Menschen mit Behinderungen?

Am Anfang des Krieges erhielten wir viele Anrufe von Familien, die uns um Unterstützung baten. Sie standen vor der unmöglichen Entscheidung, im Norden zu bleiben und möglicherweise alle zu sterben oder ihre geliebten Menschen in geschützten Unterkünften zurückzulassen – zum Beispiel in einem Krankenhaus, von dem man glaubte, es sei geschützt. Das belastete sehr. Menschen mit Behinderungen und ihre Familien konnten nicht gemeinsam umziehen. Es gab dramatische Situationen.

Welche Geschichte war für Sie besonders emotional? 

Es gibt zwei Geschichten. Die Erste ist das Schicksal eines Mannes, der Wasser und Essen verweigerte, weil er sich nicht in die Schlange vor der Toilette stellen konnte. Also versuchte er, so wenig wie möglich zu essen. Er setzte sich grosser Gefahr aus. Das zweite Schicksal ist das eines jungen Mädchens. Ihr Traum war es, Tänzerin zu werden. Das Haus ihrer Schwester, wo sie Zuflucht gesucht hatte, wurde beschossen. Sie verlor dabei ein Körperteil. All ihre Träume sind innerhalb von Sekunden zerschlagen.

Wie können Sie als Organisation Menschen mit Behinderungen im Krieg helfen? 

Die Flucht ist extrem schwierig: Die Strassen sind für Menschen im Rollstuhl unpassierbar. Einige Menschen haben ihre Mobilitätshilfen verloren. Hörgeschwächte Menschen können die Explosionen nicht hören. Handicap International hilft den Menschen mit Hilfsmitteln. Wir stellen Hygienesets zur Verfügung, bieten ihnen körperliche und funktionelle Rehabilitation und sind in der Lage, sie und ihre Familien psychisch zu unterstützten.

Wie können Sie sicherstellen, dass die Menschen an einen sicheren Ort untergebracht werden?

Es gibt keinen sicheren Ort in Gaza. Die Zivilbevölkerung ist physisch und psychisch erschöpft. Handicap International kann weder für einen sicheren Zugang, noch für sichere Orte  sorgen. Es ist die Aufgabe der Konfliktparteien, den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten und die Resolution des UN-Sicherheitsrats einzuhalten. Menschen mit Behinderungen leben momentan in Notunterkünften, Krankenhäusern, auf der Strasse und in Zelten. Besonders hart ist die Situation für diejenigen, die auf der Strasse und in Zelten leben. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei diesen Menschen die Behinderung verschlimmert, ist in Gaza hoch.

Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, sagte der Vorsitzende der Nationalversammlung für Menschen mit Behinderungen, Yannis Vardakastanis: «Dies ist eine humanitäre Krise innerhalb einer Krise». Sehen Sie das in Bezug auf den Krieg im Nahen Osten auch so? 

Ja, man kann durchaus sagen, dass es sich um eine Krise innerhalb einer Krise handelt. Menschen mit Behinderungen brauchen zusätzliche Hilfe. Ihre Würde und Menschenrechte sind unmittelbar bedroht. Die Sicherheit der Zivilbevölkerung und der zivilen Infrastruktur muss Vorrang haben. Wir fordern einen dauerhaften Waffenstillstand. Das ist die einzige Möglichkeit, weitere Tote, Verletzte und menschliches Leid sowie eine Eskalation des Konflikts in der Region zu vermeiden. Nur so können humanitäre Organisationen, die vor Ort präsent sind, Hilfe leisten.

Scan den QR-Code

Du willst keine News mehr verpassen? Hol dir die Today-App.

veröffentlicht: 15. Februar 2024 13:02
aktualisiert: 15. Februar 2024 15:02
Quelle: BärnToday

Anzeige
Anzeige
baerntoday@chmedia.ch