Opfer sei in die Schlucht geschubst worden
Zu Beginn des Gerichtsprozess wurde das Opfer befragt. Von diesem Teil der Verhandlung war die Öffentlichkeit ausgeschlossen und der Angeklagte befand sich in einem anderen Raum. Er sei mit dem heute 65-jährigen Angeklagten befreundet gewesen und habe mit ihm auch eine sexuelle Beziehung gehabt, gab das Opfer vor Gericht an. Sie hätten sich meist an etwas abgelegenen, ruhigen Orten getroffen.
Das Opfer sagte aus, dass ihm am Tag des Vorfalls sein Bekannter gesagt habe, er wolle noch etwas ausmessen. In der Griesschlucht angekommen, habe ihm der Mann das eine Ende eines Massbandes in die Hand gedrückt und angewiesen, sich an den Rand des Tobels zu stellen.
Plötzlich habe ihn der Bekannte geschubst. Zunächst habe er sich an einem Bäumchen festhalten können, doch sein Bekannter habe die Umklammerung gelöst und er sei mehrere Meter tief in den Bach gefallen.
Er habe Todesangst gehabt, dass er immer tiefer ins Wasser gezogen werden könnte. Schliesslich habe er sich auf einen abschüssigen Absatz retten und dort festhalten können. Er sei völlig durchnässt gewesen und habe gefroren. Einer seiner Füsse sei verletzt gewesen.
Übernachtung im Graben
Aus Angst habe er die Nacht im Graben verbracht. Dabei sei ihm viel durch den Kopf gegangen. Am meisten habe ihn beschäftigt, wie jemand so etwas tun könne. Er sei in Afghanistan im Krieg geboren und habe im Krieg gelebt. Er sei in die Schweiz geflohen, weil er sich hier ein besseres Leben erhofft habe.
Am Morgen sei es ihm gelungen, aus der Schlucht zu klettern und ein Auto anzuhalten. Die Leute hätten ihm dann Hilfe geleistet. Es gehe ihm psychisch nicht gut, sagte der Angeklagte. Er durchlebe den Vorfall «immer und immer wieder».
Das Gericht konfrontierte das Opfer mit der Aussage des Angeklagten, er habe den jungen Mann nicht in die Schlucht geschubst. Vielmehr sei ein Misstritt schuld am Sturz. «Das kann ich nicht akzeptieren», sagte das Opfer. Sein Bekannter habe ja nach dem Sturz auch keine Hilfe geleistet oder geholt.
Das will der Anwalt des Opfers
Der Anwalt des überlebenden Afghanen betonte die grosse Lebensgefahr, in der sich sein Klient an jenem Abend und in der Nacht in der Schlucht befunden habe. Demgegenüber sei der Angeklagte einfach nach Hause gefahren, ohne Hilfe zu holen, habe Abendbrot gegessen und Büroarbeiten erledigt.
Das sei doch kein Verhalten, das jemand an den Tag lege, der gerade einen ihm lieben Menschen habe spurlos im Abgrund verschwinden sehen, sagte der Anwalt des mutmasslichen Opfers.
Er forderte für seinen Klienten eine angemessene Verurteilung sowie eine Genugtuung von 30'000 Franken. Die Verteidigung wird am Freitag ihr Plädoyer halten. Das Urteil wird am 17. Oktober eröffnet.
Parallelen zu Tötungsdelikt
In den Untersuchungen stiess die Polizei auf Parallelen zu einem Fall, der sich nur wenige Monate vorher in der Schlucht zugetragen hatte. Damals wurde ebenfalls ein junger Afghane tot unterhalb der Griesschlucht aufgefunden.
Seinerzeit ging man mangels anderer Hinweise noch von einem Unfall aus. Doch nun nahmen die Ermittler diesen Fall nochmals unter die Lupe.
Wie die Staatsanwältin am Donnerstag ausführte, fanden sich Mobiltelefondaten, die zeigten, dass der mutmassliche Täter auch das nachmalige Todesopfer kannte und mit ihm in Kontakt gestanden war.
Angeklagter bestreitet Vorwürfe
Auch der Angeklagte sagte vor Gericht, er habe mit dem Afghanen eine gute Beziehung sexueller Natur gehabt. «Wir hatten nie Streit, nie Probleme», führte er aus. Sie hätten viel zusammen unternommen. Für Sex seien sie oft an abgelegene Orte gefahren, so auch in die Griesschlucht im Kiental. Er bestreitet die Vorwürfe.
Am fraglichen Abend hätten sie Messarbeiten gemacht im Wald im Kiental. Dabei sei der junge Afghane plötzlich gestolpert und in den Bach gefallen. Er habe ihn nicht mehr gesehen und keine Hilferufe gehört. Da sei er nach Hause gefahren, habe Abendbrot gegessen und Büroarbeiten erledigt. Hilfe habe er keine geholt, weil er annahm, dass diese ohnehin zu spät käme, sagte der Angeklagte.
An einem Baum seien schluchtseitig geringe DNA-Spuren gefunden worden, die auf das Opfer hindeuteten, hielt die Gerichtspräsidentin dem Angeklagten vor. Wenn er den Mann in den Bach gestossen hätte, hätten sich ja auch Spuren von ihm gefunden, entgegnete der Angeklagte.
Dieser zeigte sich in der Befragung durch das Gericht bisweilen renitent und geriet des öfteren ins Schwadronieren. Konkrete Fragen des Gerichts beantwortete er oft ausschweifend und wenig präzis.
Verweigert Aussage zum zweiten Fall
Dem Angeklagten wird ein zweiter, ähnlicher Fall im Kiental vorgeworfen. Das Opfer überlebte damals nicht. Zu diesem Fall verweigerte der Angeklagte am Donnerstag die Aussage.
Er habe damit nichts zu tun, beteuerte er, auch nachdem ihm das Gericht vorgehalten hatte, dass er mit dem nachmaligen Todesopfer in telefonischem und SMS-Kontakt gestanden hatte.
Im Weiteren werden dem Angeklagten zahlreiche Sexualdelikte mit Kindern und Minderjährigen gegen Entgelt vorgeworfen. Der Mann gab zu, dass er mit jungen Männern Sex gegen Entgelt hatte. In manchen der ihm vorgeworfenen Fällen bestritt er aber, dass seine Sexpartner noch minderjährig waren. In anderen Fällen gab er an, die jungen Männer hätten ihm gesagt, sie seien 18 Jahre alt. Alle hätten gewusst, worauf sie sich einliessen: «Sex gegen Geld».
Die meisten seiner mutmasslichen Opfer stammten aus dem afghanischen Raum. Dort sei Sex unter Männern an der Tagesordnung, gab der Angeklagte vor Gericht zu Protokoll. Er habe die jungen Männer bisweilen an Bahnhöfen gesehen und angesprochen.
Staatsanwaltschaft fordert 19 Jahre
Die Staatsanwaltschaft hat am Donnerstag eine Freiheitsstrafe von 19 Jahren gefordert für den Mann, der zwei Sex-Bekanntschaften im Kiental im Berner Oberland in eine Schlucht gestossen haben soll. Er befindet sich im vorzeitigen Strafvollzug.
Die Staatsanwältin erläuterte in ihrem Plädoyer, dass der Angeklagte das nachmalige Todesopfer sehr wohl gekannt habe. Auf Mobiltelefonen seien entsprechende Daten gefunden worden, die einen Kontakt belegten. Die Indizien ergäben insgesamt ein Bild, das auf die Täterschaft des Angeklagten schliessen lasse.
Die Staatsanwältin stellte in ihrem Plädoyer vollständig auf die Aussagen des Opfers ab. Der Afghane habe von Anfang an konsistent und schlüssig ausgesagt. Er habe auch den Angeschuldigten nicht unnötig stark belastet. Fussspuren am Bach und schwache DNA-Spuren an einem Baum belegten die Richtigkeit der Aussagen des Opfer.
Ganz anders habe sich der Angeklagte geäussert. Er habe Aussagen verweigert und sei zum Kerngeschehen vage geblieben. Ausserdem habe sich der Mann in Widersprüche verwickelt und sein Aussageverhalten immer wieder geändert.
Für die Staatsanwältin ergaben sich genügend Indizien, die auf eine Täterschaft des Angeklagten schliessen lassen. Allein für die beiden mutmasslichen Tötungsdelikte, eines davon versucht, verlangte die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von 16 Jahren. Dazu kommen noch diverse mutmassliche Sexualdelikte mit Kindern und Minderjährigen gegen Entgelt. Insgesamt erhöhte sich so das geforderte Strafmass auf 19 Jahre.