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Wenn das Leben überfordert: Bernerin will Post-Covid-Selbsthilfegruppe gründen

19.08.2023, 11:33 Uhr
· Online seit 19.08.2023, 11:30 Uhr
Wie ist es, wenn fast jede körperliche, psychische und emotionale Anstrengung erschöpft? Wenn selbst duschen oder ein simples SMS zu schreiben zu viel wird? Das ist der Alltag einer Frau aus Bern, die seit Monaten mit dem Post-Covid-Syndrom lebt. In einer Selbsthilfegruppe will sie sich mit anderen Erkrankten austauschen.
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«Meine alten Fussstapfen sind viel zu gross – ich bin geschrumpft.» So beschreibt N. W., die anonym bleiben möchte, ihre Erfahrungen mit Post-Covid. «Ich bin absolut passiv, praktisch inexistent.»

Post Covid, auch als Long-Covid-Syndrom bekannt, ist eine Erkrankung, über die selbst viele Ärztinnen und Ärzte kaum etwas wissen. Die häufigsten Symptome sind eine sehr geringe Belastbarkeit, körperlich und/oder emotional, starke Müdigkeit und Erschöpfung, sowie Konzentrations- und Gedächtnisprobleme.

Damit hat N. W., die sich im Frühjahr 2023 mit dem Coronavirus infiziert hatte, viele Erfahrungen gemacht. Selbst einfache Hausarbeiten oder sonstige Aufgaben sind zu viel. «Ich konnte in solchen Momenten nichts machen, weder duschen noch die Waschmaschine ausräumen.» Dazu kommt, dass die berufstätige Frau auch alleinerziehende Mutter von drei Kindern ist.

Für viele sei es schwierig, sich in diese Situation hineinzuversetzen, sagt N. W. im Gespräch mit BärnToday. Das erschwere den Austausch mit anderen Menschen. Nun will sie in Zusammenarbeit mit «Selbsthilfe BE» eine Selbsthilfegruppe gründen, um sich mit anderen Betroffenen austauschen zu können. Der Gründungsprozess der Gruppe wird gestartet, sobald sich genug interessierte Personen melden.

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Körperliche und geistige Anstrengung

N. W. hatte bereits Gelegenheit, mit anderen Menschen, die sich nach einer Corona-Infektion nicht vollkommen erholt haben, zu sprechen. «Diese Gespräche geben mir am meisten», sagt die Mittfünfzigerin. Dadurch, dass die Betroffenen die gleichen Perspektiven hätten, seien diese Gespräche sehr stärkend. «Es sind wie zwei Welten, entweder man ist drinnen oder draussen.»

In anderen Betroffenen erkenne man sich wieder und könne Tipps austauschen. Und am wichtigsten: «Man muss sich den anderen nicht erklären.» Diese Erfahrung hat N. W. bestärkt, den Aufbau einer Selbsthilfegruppe voranzutreiben und die Organisation mit «Selbsthilfe BE» an die Hand zu nehmen.

Es ist aber nicht nur körperliche Erschöpfung, die N. W. seit Monaten täglich erlebt. Sie hat auch viele Erfahrungen mit fehlender kognitiver und emotionaler Belastbarkeit gemacht. Trotz einer Agenda habe sie Tage verwechselt und dadurch Termine verpasst – «auch wenn es der einzige Termin in der Woche war», sagt sie. Selbst Nachrichten von Freunden und Bekannten, sei es per SMS oder Briefe, konnte sie nicht beantworten. «Es hat mich überfordert, darum habe ich gar nicht mehr geantwortet.»

Auch zu Hause machte Post Covid den Austausch schwierig. Die Betroffene schildert eine Szene am abendlichen Esstisch: «Wenn die Kinder miteinander gesprochen haben, habe ich sie gar nicht mehr verstanden.»

Durch die Krankheit beziehungsweise das nicht absehbare Krankheitsende hat sich auch das Selbstbild von N. W. stark verändert. «Ich gibt Dinge, die ich als Mutter nicht machen kann, die aber zu meinem Selbstbild dazugehört haben.» Ihr Sohn habe etwa seinen Lehrabschluss gefeiert, doch auswärts essen zu gehen sei für sie nicht möglich gewesen, und während der gesamten Schulferien konnte die Mutter mit ihren Kindern nichts unternehmen.

Lernen, ein neues Leben zu leben

Besonders schwierig sei das Realisieren gewesen, dass sie sich nicht nur in einer Genesungszeit befindet. Denn es sei nicht wie bei einem gebrochenen Bein, so N. W. «Es ist ein Lernprozess, ein anderes Leben zu leben», sagt die Bernerin. «Ich mache nichts und fahre herunter, bis es mich nicht mehr überfordert.»

Mittlerweile hat die Bernerin Praktiken gefunden, die ihr helfen, etwa Ergotherapie und Tiefenentspannung. Spaziergänge mit Bezugspersonen werden so langsam wieder möglich, an Kinobesuche oder Ausgang ist aber noch nicht zu denken.

Für die drei Kinder zu kochen, ist für die Bernerin nicht möglich, und die Kinder selbst sind noch zu jung, um es komplett eigenständig zu erledigen. So hat Frau W. ihr Umfeld einbezogen, das nun aushilft. Freunde und Bekannte würde oft für die Familie kochen oder Essen vorbeibringen.

Bitte kein Mitleid

Ein Stigma angesichts ihrer Post-Covid-Erkrankung habe sie in der Gesellschaft nie verspürt. «Viele zeigen Wohlwollen oder Mitleid», sagt die mehrfache Mutter. Gerade Mitleid wolle sie aber nicht – es sei eher eine zusätzliche Belastung, wenn jemand Mitleid zeige. Auch jetzt wüsste etwa die Hälfe aus ihrem Umfeld nichts von ihrer Situation.

Die Betroffene gibt auch Tipps, wie man mit Post-Covid-Erkrankten umgehen solle: «Bitte in Ruhe lassen. Ich melde mich, wenn ich etwas brauche.» Zurückhaltung sei am besten, so die Bernerin. «Alles andere ist wohlgemeint, aber nicht zielführend und bringt mehr Stress.»

An ihr «neues Leben» hat sich die Bernerin mittlerweile gewöhnt. «Psychisch geht es mir gut», sagt sie beim Interview mit BärnToday. Ein solches Gespräch sei vor Monaten noch undenkbar gewesen. Dass sie gut mit der Situation umgehen könne, habe wohl auch mit ihrer Lebenserfahrung zu tun, glaubt N. W. «Ich habe eine gewisse Gelassenheit des Alters, ich muss mich nicht mehr beweisen. Es ist wohl schlimmer, wenn man 20 Jahre alt ist und denkt, dass man jetzt das Leben verpasst.» Ihr hilft auch ihr Urvertrauen: «Das kommt schon wieder.»

veröffentlicht: 19. August 2023 11:30
aktualisiert: 19. August 2023 11:33
Quelle: BärnToday

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