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25 Jahre Surprise: «Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft»

Strassenmagazin und mehr

25 Jahre Surprise: «Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft»

· Online seit 21.04.2023, 07:31 Uhr
Seit 25 Jahren gibt es den Verein «Surprise», der besonders durch das gleichnamige Strassenmagazin bekannt ist. Die Co-Geschäftsleiterin Jannice Vierkötter spricht darüber, dass man sich vom Ziel einer Schweiz ohne Armut weiter entfernt.
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Eigentlich sollte das Jubiläum ein Freudentag sein – am 20. April 1998 wurde der Verein Surprise in Basel ins Handelsregister eingetragen. Auf die vergangenen 25 Jahre blickt Co-Geschäftsleiterin Jannice Vierkötter aber mit gemischten Gefühlen: «Auf der einen Seite haben wir vom kleinen Strassenmagazin eine grosse Entwicklung gemacht. Auf der anderen Seite macht es aber auch nachdenklich. Seit 25 Jahren kämpfen wir gegen Armut. Aber leider bewegen wir uns immer weiter weg von unserem Ziel, Armut effektiv zu bekämpfen und dass es irgendwann eine Schweiz ohne Armut gibt. Es stellt sich die Frage, warum es uns noch geben muss.»

Besonders bekannt ist der Verein für das Strassenmagazin «Surprise», welches von Hunderten  Verkäuferinnen und Verkäufern in der Schweiz verteilt wird. Das Prinzip basiere dabei auf Freiwilligkeit, wie Vierkötter erklärt: Jede und jeder könne so viel arbeiten, wie er oder sie könne oder wolle. Magazine werden von ganz unterschiedlichen Menschen verkauft: Einige beziehen Sozialhilfe, andere eine IV-Rente oder wiederum andere arbeiten in anderen Teilzeitjobs. Anfang Jahr haben wir mit «Ändu» Hebeisen gesprochen, der über ein Burnout zum «Surprise»-Verkäufer wurde.

25 Jahre mit zahlreichen Hürden

Auch für den Verein waren es nicht unbedingt einfache 25 Jahre. 2006 stand das Magazin kurz vor dem Aus – das «letzte Heft» sorgte aber für eine grosse Solidaritätswelle, die die Finanzen wieder stabilisieren konnte. In den 2010er-Jahren brach der Verkauf der Hefte dann deutlich ein: Von über 550'000 Strassenmagazinen im Jahr 2007 wurden 2012 noch rund 325'000 Exemplare verkauft. Auslöser: Durch eine Gesetzesänderung durften vorläufig aufgenommene Asylsuchende plötzlich nicht mehr arbeiten. «Wir haben viele mit Status F, die Hefte verkaufen», weiss Vierkötter. «So hatte auch der Verein weniger Einnahmen». Das war besonders problematisch, da «Surprise» über circa 60 Prozent vom Magazin finanziert wird. «In den Jahren darauf wurde diese Gesetzesänderung dann teilweise von den Kantonen wieder aufgehoben. Aber solchen gesetzlichen Rahmenbedingungen sind wir einfach ausgeliefert.»

Aber auch nach 25 Jahren ist dieses Ziel noch in weiter Ferne. Es gebe zwar viele soziale Institutionen, die sich um Armutsbetroffene kümmern, aber das reiche nicht, so Vierkötter. «Es muss auf der politischen Ebene sehr viel mehr passieren.»

Verein bezahlt auch mal eine Rechnung seiner Verkäuferinnen und Verkäufer

Auch die Corona-Pandemie war eine grosse Belastung für das Strassenmagazin. «Fast drei Monate durften wir das Magazin nicht mehr auf der Strasse verkaufen», sagt Vierkötter. «Aber auch da haben wir eine extrem grosse Solidarität aus der Bevölkerung erlebt. Wir haben sehr viele Spenden erhalten und konnten die Jahre gut überstehen. Wir konnten den Verkäuferinnen und Verkäfern sogar eine Art Ersatzzahlung für diese Zeit, in der sie nicht verkaufen konnten, geben.» Das Geld wurde auch in einen Fonds eingezahlt, von welchem man immer noch zehre, wie die Geschäftsleiterin erklärt. Besonders im Moment mit steigenden Kosten in allen Lebensbereichen seien viele Verkäuferinnen und Verkäufer froh darüber. «Wenn es eng wird, übernehmen wir auch mal eine Miet- oder Arztrechnung oder eine Krankenkassenprämie», so Vierkötter.

Die Inhalte des Strassenmagazins werden von professionellen Journalistinnen und Journalisten geschrieben. Ein Teil sei angestellt, ein Teil arbeite auf Honorarbasis.

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Viel mehr als nur ein Strassenmagazin

Von den sechs Franken, die das Magazin kostet, gehen drei Personen an die jeweilige Verkaufsperson. Darin seien auch die Sozialleistungen enthalten. «Der Rest geht an den Verein Surprise und wird unter anderem für die Produktions- und Druckkosten gebraucht», erklärt Jannice Vierkötter. Aber auch weitere Dienstleistungen für die «Surprise»-Verkäufer werden damit abgedeckt: So gibt es Beratungs- und Begleitungsangebote, die sie in Anspruch nehmen können. «Wenn sie beispielsweise bei der Job- oder Wohnungssuche oder ein juristisches Problem haben, können sie zu uns kommen», so Vierkötter.

Zum Verein gehört aber nicht nur das bekannte Magazin. In Basel, Bern und Zürich organisiert der Verein soziale Stadtrundgänge, bei welchen Armutsbetroffene und obdachlose Menschen von ihren Erfahrungen berichten. Mit einem Strassenchor und Strassenfussball soll auch die soziale Teilhabe gestärkt werden. Die Geschäftsleiterin betont, wie wichtig dies sei: «Armutsbetroffene können oft nicht an Aktivitäten teilnehmen, die Geld kosten. Da bieten wir Hand und haben direkten Kontakt zu den Menschen.»

Mit dem sogenannten Café Surprise kann man armutsbetroffenen Menschen ausserdem einen Kaffee spendieren. In Bern beteiligen sich über 20 Cafés an dieser Aktion.

Das Ziel für die Zukunft sei es, das Magazin der deutschsprachigen Schweiz noch weiter zu verbreiten. «Wir haben das Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft. In vielen Kantonen sind wir noch nicht so gut vertreten wie in Bern, Basel und Zürich», sagt Vierkötter. Durch die vielen Anfragen könne man aktuell auch nicht allen Interessierten einen Verkaufsplatz anbieten: «Wir wollen den Leuten, die auf der Warteliste stehen, einen Ausblick geben, dass sie zukunftsnahe selbst verkaufen können.»

veröffentlicht: 21. April 2023 07:31
aktualisiert: 21. April 2023 07:31
Quelle: BärnToday

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