Nach Missbrauchsvorwürfen

Szene Schweiz: «Schauspielhäuser nehmen das Problem nicht ernst»

29.09.2022, 19:37 Uhr
· Online seit 29.09.2022, 19:03 Uhr
Die Vorwürfe gegen den Probenleiter am Berner Stadttheater überraschen die Geschäftsführerin von Szene Schweiz nicht. Die Schauspielhäuser würden nur reagieren, wenn Fälle an die Öffentlichkeit kämen, sagt sie im Interview.
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Der Probenleiter der Ballettkompanie am Stadttheater Bern soll mehrere Balletttänzerinnen sexuell belästigt haben, dies geht aus Recherchen der Schweizer Ausgabe der Wochenzeitung «Die Zeit» aus. Szene Schweiz gilt als grösste und wichtigste Schweizer Berufsorganisation für freischaffende und festangestellte Künstlerinnen und Künstler bei Theater, Film und TV. Salva Leutenegger ist die Geschäftsführerin der Organisation.

Was ist Ihre Reaktion auf die in der Wochenzeitung «Die Zeit» veröffentlichten Vorwürfe gegen den Probenleiter des Stadttheaters?

Leutenegger: Ich bin nicht überrascht. Ich wusste von diesem Fall und ich hatte bereits mit der Autorin des Artikels gesprochen. Es sind auch bei uns Fälle gemeldet worden. Seit Jahren sind wir an diesem Thema dran.

Was war Ihnen alles schon bekannt?

Wir wussten, dass es mit dem Trainingsleiter ein Problem gegeben hatte. Wir mussten aber die Tänzerinnen und Tänzer, die uns das gemeldet haben, strikt schützen. Deshalb durften wir damit nicht an das Schauspielhaus gelangen oder an die Öffentlichkeit gehen. Die Tänzerinnen und Tänzer hatten berechtigterweise Angst um ihren Job.

Warum sind Sie von den Geschehnissen nicht überrascht?

Weil es seit Jahren ein Problem ist. Wir haben vor drei Jahren eine Umfrage gemacht. Dabei gaben 79 Prozent der befragten Mitglieder an, bereits Machtmissbrauch erlebt zu haben, in welcher Form auch immer. Überraschend ist hingegen, dass sich die Schauspielhäuser diesbezüglich immer noch nicht bewegen und das Problem immer noch nicht ernst nehmen. Sie reagieren erst, wenn Fälle an die Öffentlichkeit gelangen. Meistens sind es dann Ehemalige, die sich äussern, weil die Leute, die wirklich betroffen sind, zu grosse Angst haben.

Denken Sie, dass die Kulturbranche besonders anfällig ist gegenüber solchen Vorfällen?

Absolut. Es ist vor allem bei den etablierten Häusern ein Problem, weil die Hierarchien sehr steil sind. Ausserdem werden Vorgesetzte engagiert, die keinen wertschätzenden Umgang mit den Tänzerinnen und Tänzern pflegen und ihre Macht missbrauchen.

Was müsste passieren, damit sich das ändert?

Wir haben bereits vor Jahren relativ schnell auf die MeToo-Bewegung reagiert und die Schauspielhäuser respektive den Schweizerischen Bühnenverband darauf angesprochen. Ausserdem haben wir einen Kodex lanciert. Gerne hätten wir mit dem Bühnenverband zusammengearbeitet, um dieses Problem zu besprechen und aktiv anzugehen. Er hat sich aber geweigert und gesagt, er würde das lieber den Schauspielhäusern überlassen und hat dann selbst einen Kodex geschrieben. Aber eigentlich hat sich nichts geändert. Obwohl wir ihr Sozialpartner sind, wollte man dieses Thema mit uns nicht angehen.

In der Romandie gibt es die anonyme Meldestelle «Safe Space Culture». Sie haben auch eine anonyme Meldestelle, wie funktioniert diese genau?

Wir haben als Berufsverband ein Beratungsangebot und dazu auch noch die angesprochene anonyme Plattform. Diese hat aber einen grossen Mangel: Wenn sich tatsächlich jemand anonym meldet, können wir die Fälle selten weiterverfolgen. Es hilft zwar den Betroffenen, um etwas loszuwerden, aber wir können nicht mit ihnen selbst sprechen. Es ist trotzdem wichtig, dass es dieses Angebot gibt, weil es den Betroffenen hilft und wir teilweise dennoch etwas unternehmen können, auch ohne die Betroffenen einzubinden.

Gibt es auch Pläne für weitere Unterstützungsangebote in der Deutschschweiz?

Im Moment nicht. Wir warten immer noch darauf, dass der Bühnenverband auf uns zukommt. Wir würden gerne etwas mit den Schauspielhäusern aufgleisen. So lange das nicht passiert, bewegen wir uns einfach weiterhin im Bereich, in dem wir Leute beraten und unterstützen können. Wir kommen aber nicht weiter.

veröffentlicht: 29. September 2022 19:03
aktualisiert: 29. September 2022 19:37
Quelle: BärnToday

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