Viele Berner Listen

«Liebesdienst gegenüber Partei» – darum wollen nicht alle 700 Personen in den Nationalrat

09.08.2023, 07:15 Uhr
· Online seit 08.08.2023, 19:34 Uhr
Im Oktober stehen die Nationalratswahlen an. Für die 24 Berner Sitze stellen sich fast 800 Leute zur Wahl. Doch längst nicht alle von ihnen wollen wirklich in die nationale Politik. Der Politologe Mark Balsiger erklärt, warum es trotzdem so viele Listen gibt und wer die grossen Aussenseiter sind.
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Bald bekommen Bernerinnen und Berner dicke Post: Die Couverts für die grossen Wahlen im Herbst flattern in die Briefkästen. Die Plätze im Parlament sind beliebt wie noch nie: Fast 800 Personen kandidieren für die 24 Berner Sitze. Ein Rekord, wie die Staatskanzlei mitteilt.

Wie hat sich die Anzahl Listen verändert?

776 Personen sind auf den 39 Berner Listen aufgeführt. Im Vergleich zu den letzten Nationalratswahlen 2019 ist dies nochmals eine Steigerung von fast 20 Prozent. Der Politologe Mark Balsiger relativiert die Rekordteilnahme: «Auf den ersten Blick könnte man tatsächlich das Gefühl bekommen, es werde immer populärer für die Leute zu kandidieren.» Aber das sei nur die halbe Wahrheit. Ein grosser Anteil der Leute wolle gar nicht gewählt werden: «Ein Haufen wird überredet zu kandidieren oder sie machen es als Listenfüller, ohne Ambitionen. Als Liebesdienst gegenüber ihrer Partei.»

Das Wahlcouvert wird immer dicker. Seit 1971 das Frauenstimmrecht eingeführt wurde, hat sich die Anzahl Listen schweizweit verdreifacht. Es ist laut Balsiger ein langjähriger Trend und trifft auch auf den Kanton Bern zu. «Die Leute in den Parteizentralen glauben, dass es hilft, wenn man mit unterschiedlichen Listen antritt», ordnet der Politologe ein. «Die GLP im Kanton Bern ist Spitzenreiterin. Sie kommt mit sieben verschiedenen Listen und hat so die Hoffnung, dass sie den Nerv der Leute besser trifft.»  Es sei also nicht nur die Hauptliste, die Junge Grünbliberale und KMU, sondern beispielsweise auch eine Liste «Queer & Allies» und eine «Frankophon und Frankophil»-Liste.

Was erhoffen sich die Parteien davon?

Laut Balsiger gibt es solche Listen nur für die Nationalratswahlen, sonst haben sie keine Bedeutung. Die Mitte, die zum ersten Mal antritt, macht es ähnlich: Sie hat sechs verschiedene Listen.

Die Idee dahinter beschreibt er in einem Bild: «Dass man mit den unterschiedlichsten kleinen Fischernetzen im Thunersee unterwegs ist und sich so mehr Fang erhofft, als wenn man nur mit zwei grösseren Netzen in See sticht.» Manchmal seien es ein paar wenige Hundert Stimmen, die den Unterschied ausmachen.

Können so Wählerinnen und Wähler den Überblick behalten?

«Wenn es mehr Listen und mehr Kandidatinnen und Kandidaten gibt, das kann zu einer Überforderung führen», sagt Mark Balsiger. Wenn man die nüchternen Zahlen anschaue, sehe man, dass sich die Wahlbeteiligung irgendwo bei 45 bis 48 Prozent eingependelt habe. «Vor ein paar Jahrzehnten war sie noch deutlich höher. Da wurde es nicht nur als Würde angesehen, sondern vielmehr als Verpflichtung, dass man wählen geht.»

Wer sind die grossen Aussenseiter?

Dass Madeleine Amstutz antritt, überrascht Mark Balsiger nicht. Sie hat sich mit einer Listenverbindung ohne die SVP bereits einen Sitz im bernischen Grossen Rat geholt. Nun will sie in den Nationalrat. Man dürfe aber nicht vergessen, dass es ungefähr vier Prozent der Stimmen brauche, um einen Nationalratssitz zu holen. «Das ist eine hohe Hürde und dass sie das mit ihrer Liste schafft, ist aussichtslos», glaubt der Politologe. Die Konkurrenz von etablierten Parteien sei zu gross.

Aufrecht Bern hat auch vor rund eineinhalb Jahren an den Grossratswahlen teilgenommen. «Sie haben dort keinen einzigen Grossratssitz gemacht, obwohl dort die Hürden tiefer sind.» Es sei gut, dass sie bei den Nationalratswahlen antreten. «So haben die Leute eine echte Auswahl.» Sie hätten auch unglaublich viel mediale Präsenz, sowohl Massvoll als auch Aufrecht. «Sie stellen sich der Wahl: das ist demokratisch und richtig. Aber dass sie eine Chance haben, können wir weitgehend ausschliessen.»

Wie entwickelt sich der Frauenanteil?

Der Frauenanteil bei den Kandidierenden stagniert bei 42 Prozent. Aber Mark Balsiger betont: «Entscheidend wird viel mehr sein, dass der Frauenanteil der Gewählten nicht zurückgeht.»

So haben sich die Parteien seit 1991 entwickelt:

veröffentlicht: 8. August 2023 19:34
aktualisiert: 9. August 2023 07:15
Quelle: BärnToday

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