Nach Gewaltvorwürfen

«Wer sowas sagt, hat keine Ahnung von Machtmissbrauch»

· Online seit 16.06.2023, 10:37 Uhr
Auf die Diskussion rund um Rammstein und Till Lindemann gab es etliche Meinungen. Userinnen und User reagierten mit Unverständnis für das Verhalten der Frauen in der Row Zero. Eine Expertin für sexuelle Gewalt findet diese Haltung furchtbar.
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Die Berliner Staatsanwaltschaft bestätigte am Donnerstag Ermittlungen gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann. Es geht um den Anfangsverdacht von Sexualstraftaten und der Abgabe von Betäubungsmitteln. Der Haupttenor zahlreicher Leser-Kommentare zum Fall Rammstein lautet: «Wer in der Row Zero steht, will doch Sex mit Till Lindemann», schreibt die «Limmattaler Zeitung».

Hinter dieser Aussage stehe die Annahme, dass Frauen bewusst das Risiko in Kauf nähmen, und wenn es blöd läuft, vergewaltigt werden. Das sei eine furchtbare Haltung. «Hätten die Frauen wissen müssen, dass Till Lindemann ein Vergewaltiger ist?», sagt Agota Lavoyer, Expertin für sexuelle Gewalt und Opfernhilfe.

Sie nimmt in einem Interview mit der Zeitung Stellung zum Fall. «Einige haben eventuell ein sexuelles Begehren Till Lindemann gegenüber, andere nicht, und trotzdem stehen sie da», so Lavoyer.

Kein Recht, sexuelle Grenzen zu verletzen

Frauen erzählten, sie seien aufgewacht und Till Lindemann sei auf ihnen gesessen. Bei den Vorwürfen gehe es um sexuelle Grenzverletzungen und Übergriffe bis zur Vergewaltigung, so die Expertin. Hinter Leser-Aussagen wie «‹das Risiko ist doch klar›» stehe die Haltung: Die Männer seien halt triebgesteuert, es sei Biologie, dass sie übergriffig würden.

«Das ist eine falsche Vorstellung. Zudem hat jeder Mensch das Recht, auch mal unvorsichtig, naiv oder dumm zu sein und nicht immer jedes Risiko kommen zu sehen.» Aber niemand habe das Recht, sexuelle Grenzen zu verletzen, sagt Agota Lavoyer zur «Limmattaler-Zeitung».

«Ich habe noch nie so viele Hassreaktionen erhalten»

Statt von den Tätern rede man von den Betroffenen. «Man findet es schlimmer, dass jemand vermeintlich naiv war, als dass jemand sexuell übergriffig war.» Solche Zuschriften stammten fast ausschliesslich von Männern, auch jüngeren.

«Es gibt Männer, die sich und ihr Männerbild nicht hinterfragen wollen. Nicht alle sind bereit, von ihrer Machtposition abzurücken. Auch ich habe noch nie so viele Hassreaktionen erhalten wie auf meine Tweets zu Rammstein», stellt Expertin Lavoyer fest.

Dass zahlreiche Leser der Meinung sind, man könne immer Nein sagen, auch wenn es nicht einfach sei, entgegnet Lavoyer so: «Eine Person, die so etwas sagt, hat keine Ahnung, was Macht und Machtmissbrauch ist. Und wie gross der Machtunterschied zwischen einem millionenschweren, berühmten Mann in einem gewissen Alter ist und einem Fan.»

Täter entscheidet – Opfer kann das nicht

Gemäss den Aussagen der Frauen wurde mit Separieren der Frauen, Handy wegnehmen, Alkohol verabreichen und anderen Substanzen darauf hingearbeitet, es ihnen zu erschweren, Nein zu sagen. «Der Täter entscheidet: Ich ignoriere die Grenzen des Gegenübers. Das Opfer entscheidet nichts.»

Es bräuchte laut der Expertin eine grosse Kampagne und entsprechende Aufklärung in den Schulen und verpflichtende Schutzkonzepte, zum Beispiel für Konzertveranstalter.

Bislang sprach der Bund lediglich Gelder, die gerade mal für eine Kampagne gegen sexualisierte Gewalt reichten, also ein paar Plakate. «Immerhin haben wir mit Müh und Not das Sexualstrafrecht reformiert.»

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(nib)

veröffentlicht: 16. Juni 2023 10:37
aktualisiert: 16. Juni 2023 10:37
Quelle: Today-Zentralredaktion

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