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«Als Schiedsrichter kann man nicht Dankbarkeit erwarten»

Berner Spitzen-Schiri

«Als Schiedsrichter kann man nicht Dankbarkeit erwarten»

27.06.2023, 22:44 Uhr
· Online seit 27.06.2023, 06:03 Uhr
Mit 25 Jahren hatte Anojen Kanagasingam bereits seinen ersten Schiedsrichtereinsatz in der Challenge League, seit letztem Jahr leitet der 29-Jährige auch Spiele in der Super League. Im Interview spricht der Berner über seine Ziele, den Umgang mit Druck und verrät, was er vom VAR hält.
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BärnToday: Wie sind Sie zu Ihrer Tätigkeit als Schiedsrichter gekommen?

Anojen Kanagasingam: Ich habe mit 9 Jahren beim SC Ittigen mit dem Fussballspielen begonnen. Nach der Juniorenzeit bin ich mit 15 Jahren zur ersten Mannschaft in der 4. Liga gestossen. Die Leidenschaft für den Fussball war schon immer da. Ich war auf dem Platz immer sehr ehrgeizig, mit meinen eher überschaubaren Fähigkeiten hätte es mir aber maximal in die erste Liga gereicht. Mit der ersten Mannschaft haben wir mehrere Jahre versucht, in die dritte Liga aufzusteigen – leider ohne Erfolg, was an meinem Stolz gekratzt hat. In einem entscheidenden Spiel gegen Köniz, auf das wir uns das ganze Jahr vorbereitet hatten und das wir dann verloren, fiel der vorgesehene Schiedsrichter aus. Nebst unserer eigenen äusserst  bescheidenen Leistung war auch jene des Ersatz-Schiedsrichters nicht gut. Damals war es so, dass Aktiv-Spieler als Spielleiter für Juniorenturniere gestellt werden mussten. So bin ich zum Schiedsrichterwesen gekommen. Ehrlicherweise ging es auch um den finanziellen Aspekt: Ich besuchte zu dieser Zeit den Gymer Kirchenfeld und überlegte mir, wie ich zu einem Sackgeld kommen könnte. Als 17-Jähriger habe ich den Schiedsrichter-Grundkurs in der Lenzerheide gemacht und ab Sommer 2011 pfiff ich erste Spiele bei den C-Junioren.

Was fasziniert Sie an Ihrem Job als Schiedsrichter?

Die grösste Faszination ist der Fussball an und für sich. Der Fussball bringt 22 Charaktere, Kulturen, Religionen und politische Gesinnungen zusammen. Das Ziel eines Schiedsrichters ist es, die 90 Minuten möglichst ruhig und störungsfrei durchzubringen. Es sind 22 Fussballer und vor allem 22 Individuen. Das finde ich das Schöne daran: Man muss Menschen mögen, führen und mit ihnen kommunizieren. Als Schiedsrichter ist man auch Fussballfachmann, man muss den Fussball verstehen und braucht Fachwissen. Man muss entscheidungs- und charakterstark sein. Dazu kommt das Sportliche: Man ist gefordert, pro Match zehn bis zwölf Kilometer zu absolvieren. Wir trainieren vier bis fünf Mal pro Woche. Es reicht nicht, einmal in der Woche den Vitaparcours zu machen. Zudem kann man sich selber herausfordern. Es gibt kein Spiel, bei dem man gar keinen Fehler macht, es ist ein stetiger Lernprozess.

Wie unterscheidet sich Ihre Tätigkeit in der Super League im Vergleich zum Amateurfussball?

Bis zur 3. Liga ist man als Schiedsrichter alleine unterwegs. Ab der 2. Liga hat man zwei Assistenten, die einen nur schon im Bereich der Regel 11 (Abseits) extrem entlasten. Ab der Challenge League gibt es einen Vierten Offiziellen, der einen in der Kommunikation mit den beiden Auswechselbänken und bei den Auswechslungen unterstützt. Der grösste Unterschied ist der VAR (Video Assistant Referee), der ab Stufe Super League dazukommt und dann eingreift, wenn man einen klaren und offensichtlichen Fehler macht. Das mediale Interesse und das Zuschaueraufkommen sind ausserdem ganz anders als im Amateurfussball. Entsprechend ist der Druck viel grösser. Und rein fussballerisch liegen natürlich Welten zwischen Amateur- und Profifussball.

Was sind ihre Ziele als Schiedsrichter?

Klar ist es der Traum jedes Schiedsrichters, einmal den Champions-League- oder den WM-Final zu pfeifen. Ich durfte in der letzten Saison meine ersten Erfahrungen als Super-League-Schiedsrichter machen. Dort möchte ich mich bewähren und mich ohne Druck zu einer festen Grösse weiterentwickeln. Ich will möglichst viele Erfahrungen auf dieser Stufe sammeln, gute Leistungen zeigen und dann wird allenfalls auch der nächste Schritt kommen.

Wie bereiten Sie sich auf ein Spiel vor?

Nebst der körperlichen Vorbereitung ist die Erholung wichtig, vor allem in einer Woche mit mehreren Spielen. Hinzu kommt die taktische Vorbereitung. Ich schaue mir die Kader, die Spieler, deren Spielsysteme und den bisherigen Saisonverlauf der beiden Teams an. Weiter bespreche ich mit meinem Team, was uns erwarten wird. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man überrascht wird. Es ist wichtig, keine Vorurteile gegenüber Teams oder Spielern zu haben und unvoreingenommen in ein Spiel zu gehen. Ein paar Tage vor dem Match nehme ich Kontakt mit meinem Schiedsrichter-Team auf, um organisatorische Dinge zu besprechen. Am Spieltag frühstücke ich meistens und erledige beispielsweise etwas im Haushalt, bevor ich mich auf den Weg zum Stadion mache. Zwei Stunden vor Anpfiff bin ich im Stadion, inspiziere den Platz und halte Rücksprache mit dem VAR. Direkt vor dem Match bereite ich mich mental und körperlich auf das Spiel vor.

Wie gehen Sie mit Druck um?

Ich versuche den Druck so umzuwandeln, dass er positiv für mich ist. Im Idealfall kann ich dadurch über mich hinauswachsen. Druck stachelt mich an, aber kann natürlich auch mal hemmen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich vor grossen Spielen nie nervös bin. Ich habe zudem ein gutes Umfeld, was sehr hilfreich ist. Ich könnte mir auch vorstellen, in Zukunft mit einem Sportpsychologen zusammenzuarbeiten.

Hat der VAR Ihre Aufgabe vereinfacht oder erschwert?

Es ist weder einfacher noch schwieriger geworden, sondern einfach anders. Es ist wie ein Sicherheitsnetz, das Schiedsrichter davor schützen soll, klare Fehler zu begehen. Es kann den Druck vom Schiedsrichter nehmen, wenn er weiss, dass ihm geholfen werden kann, sofern er eine Szene falsch eingeschätzt und einen Fehler begangen hat. Ich bin nach wie vor sehr überzeugt vom VAR und erachte ihn als Mehrwert für den Fussball, wenn er korrekt eingesetzt wird. Das Ziel von uns Schiedsrichtern inklusive VAR ist vor allem eines: Korrekte Entscheidungen treffen. Der VAR soll hier ein Hilfsinstrument sein, die abschliessende Verantwortung ist und bleibt aber beim Unparteiischen im Stadion.

Ist es nicht undankbar, vor allem bei Fehlern im Mittelpunkt zu stehen?

Doch, es kann ein undankbarer Job sein. Man wird in erster Linie nicht Schiedsrichter mit dem Ziel, mit Lob überschüttet zu werden. Wenn man in den Medien ist, dann oft oder nur, weil man einen Fehler gemacht hat. Wenn man einen super Match macht, wird das oft als selbstverständlich erachtet. Dessen muss man sich bewusst sein. Es braucht ein dickes Fell. Respekt muss man als Schiedsrichter immer einfordern, aber man darf nicht Dankbarkeit seitens Involvierten erwarten. Dies hört sich im ersten Moment abschreckend an, ist aber Realität und gehört zum harten Los der Spielleitenden.

Wie läuft die Kommunikation mit Spielern und Trainern ab?

Es ist wie im Berufsleben oder im Alltag: Man kann nicht mit allen Menschen auf die gleiche Art kommunizieren. Ich bin sehr kommunikativ und gesprächig und habe teilweise auf die harte Tour lernen müssen, dass das nicht immer vorteilhaft ist. Man muss nicht alle Entscheidungen begründen und selber abschätzen, wem man auf dem Spielfeld wie viel und mit welcher Tiefe erklärt. Die Spieler sind da komplett unterschiedlich: Es gibt solche, die 90 Minuten lang gewissermassen am Schiedsrichter kleben und ihn zu manipulieren versuchen. Es gibt aber auch Spieler, die vom Typ her ruhig sind und am liebsten gar nichts mit dem Schiedsrichter zu tun haben wollen. Es ist die Aufgabe des Schiedsrichters, alle Spieler auf ihre Art und Weise abzuholen.

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veröffentlicht: 27. Juni 2023 06:03
aktualisiert: 27. Juni 2023 22:44
Quelle: BärnToday

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