Gehörloser kämpft um Anerkennung

Berner Nationalratskandidat: So krass werde ich diskriminiert

· Online seit 02.05.2023, 07:53 Uhr
«Gehörlos, aber nicht dumm!» Unter diesem Motto will der Berner Christian Gremaud im Herbst in den Nationalrat ziehen und die Barriere zwischen gehörlosen und hörenden Menschen einreissen. Selbst von Behindertenorganisationen zeigt er sich enttäuscht.
Anzeige

Seit seiner Geburt ist Christian Gremaud gehörlos. «Ich kenne es nicht anders», sagt er im Gespräch mit BärnToday. Mit dem Älterwerden merkte er aber schnell, dass er anders als die anderen Kinder ist. Auf seinem Bildungsweg und seiner späteren beruflichen Laufbahn hat er immer wieder Diskriminierung erlebt.

Seit drei Jahren lebt der inzwischen 46-Jährige in Bern. Geboren ist er aber in Lausanne. Der Rest seiner Familie ist hörend – so auch sein älterer Bruder. Der Vergleich zu ihm zeigte die Benachteiligung Gremauds als gehörloses Kind deutlich auf. «Ich beobachtete, wie er mit anderen Kindern einfach reden konnte.» Er sah zu, wenn Hörende miteinander schwatzten und lachten. «Da wollte ich wissen, was denn jetzt so lustig ist.»

Zum Lachen war ihm allerdings nicht immer zumute. Auf der Gehörlosenschule bekam er nicht den gleichen Stoff vermittelt wie sein Bruder. «Er lernte Latein, ich nicht. Er lernte Englisch, ich nicht.» Selbst in seiner Muttersprache, nämlich Französisch, lernte er bloss einfache Sätze wie «Ich gehe nach Hause». «Alles wurde sehr einfach und basal erklärt», erinnert er sich.

Scan den QR-Code

Du willst keine News mehr verpassen? Hol dir die Today-App.

Gebärdensprache in der Schweiz nicht anerkannt 

Apropos Muttersprache: Im Fall von Christian Gremaud wäre dies eigentlich die Gebärdensprache. «Die Gebärdensprache hat mir die Welt geöffnet», sagt er heute. Bereits im Alter von zwei Jahren konnte er sich mittels Gebärden verständigen. Und so nach und nach auch Lippenlesen und die Lautsprache erlernen. Beim Übertritt in eine integrative Schule konnte er mit viel Engagement seinen Bildungsrückstand aufholen, später sogar studieren. Inzwischen ist der 46-Jährige ausgebildeter Kommunikationsmanager.

Ein Haken aber bleibt: Die Gebärdensprache ist in der Schweiz der Lautsprache nicht gleichgestellt. Die Invalidenversicherung zahlt nur zehn Stunden für eine Gebärdensprachdolmetscherin oder -dolmetscher am Arbeitsplatz pro Monat. «Der Bedarf ist aber um ein Vielfaches grösser.»

Dafür, dass sich in dieser Hinsicht etwas ändert, will Gremaud selbst in die Politik. Im Herbst kandidiert er auf der Liste der Berner SP für den Nationalrat. Die Partei sei in einem Lernprozess, sich gegenüber Menschen mit einer Behinderung mehr zu öffnen. Gremaud verweist etwa darauf, dass am Parteitag der Sozialdemokraten Dolmetscherinnen die Inhalte für Gehörlose zugänglich machen.

Eine Motivation für die Kandidatur war, dass Behinderte in der Politik massiv untervertreten sind. Unter der Bundeshauskuppel gibt es gerade einmal einen behinderten Abgeordneten. Geht es nach Gremaud müssten es aber 40 sein. In der Schweiz haben nämlich 20 Prozent eine Behinderung – also jeder fünfte.

Behindertenorganisation fehlt Umgang mit gehörlosen Menschen

Selbst in Behindertenorganisationen sind Behinderte teilweise in der Unterzahl. Was das für Betroffene bedeuten kann, erlebte Gremaud am eigenen Leib. In einer Institution wurde Gremaud in der Probezeit gekündigt.

Grund dafür: Die Zusammenarbeit zwischen ihm und den hörenden Personen war kein Miteinander. Weder war ihm klar, was seine Aufgaben denn genau sind, noch erhielt er von seinen Kolleginnen und Kollegen genügend Unterstützung und Anleitung.

Die Organisation habe sich zwar darum bemüht, eine andere Stelle intern an Gremaud zu vergeben. Doch gegenseitig gepasst habe nichts.

Er vermutet ein Grundsatzproblem, das sich im Schreiben des HR fürs Arbeitslosenamt konstatiert. Im Schreiben, das BärnToday vorliegt, heisst es: «Die Zusammenarbeit war aus verschiedenen Gründen nicht möglich (Position und Aufgaben noch nicht ausreichend definiert, fehlende Erfahrung mit einer gehörlosen Person usw.).»

Gremaud macht dies wütend: «Dass eine Behindertenorganisation offen sagt, keine Erfahrung mit gehörlosen Personen zu haben und sich dennoch gross Inklusion auf die Fahne schreibt. Das ist für mich Diskriminierung.»

Er erhofft sich nun, dass er in der Politik die Barriere und die Diskriminierung bekämpfen kann. Für Gehörlose, aber auch insgesamt für Menschen mit einer Behinderung. Oder auch für Angehörige von Minderheiten generell. «Das Diskriminierungsverbot in unserer Verfassung muss auch umgesetzt werden», so seine Forderung.

veröffentlicht: 2. Mai 2023 07:53
aktualisiert: 2. Mai 2023 07:53
Quelle: BärnToday

Anzeige
Anzeige
baerntoday@chmedia.ch