Mehr Obdachlose

«Massive Zunahme»: Berner Notschlafstellen am Anschlag

23.03.2023, 21:06 Uhr
· Online seit 16.03.2023, 17:35 Uhr
Das Angebot des Sleepers wird – wie jeden Winter – rege genutzt, das Passantenheim der Heilsarmee spricht sogar von einer «massiven Zunahme» der Nachfrage. Pinto, die mobile Interventionsgruppe der Stadt Bern, registriert eine grosse Zunahme an obdachlosen Personen.
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Wer häufig in Bern oder anderen Städten unterwegs ist, kennt den Satz: «Ich sammle Geld für die Notschlafstelle, hesch mr ä Stutz?». Auch eine Today-Redaktorin wurde kürzlich angesprochen und um Geld gebeten. Dabei kam sie mit der Person im Gespräch. Sie erzählte, dass Berner Notschlafstellen zurzeit oft ausgelastet sind – oder sogar überlastet. Stimmt das?

Vera Rebmann von der Notschlafstelle Sleeper kann diese Annahme bestätigen. «Viele Leute nehmen dieses Angebot momentan in Anspruch. Allerdings sind wir jeden Winter relativ voll.» Der Sleeper bietet Platz für 14 Männer und 6 Frauen. «Wir haben 20 Betten und 2 Notmöglichkeiten – das ist nicht wahnsinnig viel. Daher mussten wir auch schon Leute abweisen.» Letzteres käme aber selten vor. «Wir sind in Kontakt mit anderen Notschlafstellen wie beispielsweise dem Passantenheim der Heilsarmee und versuchen untereinander, die Leute gezielt weiterzuleiten.»

In diesem Video erfährst du, wie die Notschlafstelle Sleeper organisiert ist:

Quelle: BärnToday / Warner Nattiel

Passantenheim der Heilsarmee: «Massive Zunahme»

Mit 50 Notschlaf-Plätzen bietet das Passantenheim Bern wesentlich mehr Platz als die Notschlafstelle Sleeper. Wie sieht es dort mit der Auslastung aus? «Wir sind sehr stark ausgelastet», sagt Heimleiter Franz Dillier. Freie Betten gebe es zwar regelmässig, doch sie seien jeweils sehr schnell wieder besetzt. «Für uns bedeutet das eine massive Zunahme an Platzsuchenden im Gegensatz zum Vorjahr.»

Wie kommt das? «Es zeichnet sich ab, dass es mehr Platzsuchende aus Osteuropa gibt, die einen Platz zum Schlafen suchen», erklärt Dillier. Manchmal kämen auch grössere Gruppen oder eine ukrainische Familie, die sich noch nicht beim Staatssekretariat für Wirtschaft (SEM) angemeldet hätten. Auch der Sleeper registriert viele Besuchende aus dem Osten.

Pinto registriert massive Zunahme an Obdachlosen 

Die mobile Interventionsgruppe Pinto engagiert sich im Auftrag der Stadt Bern im öffentlichen Raum des Stadtgebiets für eine «konfliktfreie Koexistenz aller Bevölkerungsgruppen». Dazu gehört für Pinto-Mitarbeitende unter anderem der Kontakt mit obdachlosen Menschen. Pinto versucht, deren Lebenssituation zu verbessern und den Zugang zu Hilfsangeboten herzustellen.

Pinto-Leiter Silvio Flückiger registriert mehr Leute auf der Gasse: «In den letzten Jahren hatten wir in der Regel bis zu 25 Obdachlose. Auf dieses Jahr hin gab es einen massiven Anstieg. Wir haben jetzt im Durchschnitt 44 Leute, die uns bekannt sind, welche draussen leben.» Den Anstieg erklärt er sich so: «Wir hatten vermehrt Roma, die hier übernachtet haben. Manche waren auf Arbeitssuche, andere sind gekommen, um zu betteln und so ihre Familie zu unterstützen. Wir haben aber auch mehr obdachlose Schweizer. Manche spüren noch immer die Nachwehen der Corona-Zeit.»

Für viele sei es eine extrem harte Zeit. «Themen wie die Unsicherheit während der Pandemie, der Ukraine-Krieg oder die Strommangellage – solche Themen haben dazu geführt, dass viele den Halt verloren haben und schlussendlich leider auf der Gasse gelandet sind.»

Alle Notschlafstellen voll besetzt

Eine Situation wie die aktuelle hat Flückiger noch nie erlebt. «Wenn die Berner Notschlafstellen überlastet war, konnten wir früher Leute in Biel, Thun oder Freiburg unterbringen. Momentan haben wir wirklich die Situation, dass alle voll besetzt sind.»

Es gelte allerdings zu beachten, dass nicht alle 44 Personen, die Pinto bekannt sind, auch in eine Notschlafstelle wollen: «Wir haben sehr viele Personen, die einerseits kein Geld ausgeben möchten, andererseits auch solche, die es gar nicht schaffen, eine Notschlafstelle aufzusuchen – sei es wegen einer psychischen Krankheit oder weil sie die Nähe zu anderen Leuten nicht ertragen», erklärt Flückiger. Selbst wenn in einer Notschlafstelle also Betten frei wären, würden manche Obdachlose das Angebot nicht wahrnehmen.

Was passiert mit Leuten, die abgewiesen werden müssen?

Was aber, wenn jemand verzweifelt ein Bett für die Nacht sucht, aber keines frei ist? Bei sehr tiefen Temperaturen keine angenehme Vorstellung. Pinto betreibt im Winter mit dem «• 6» in der Nägeligasse einen Verein für Obdachlose, der Essen, Toiletten, Duschen und Notbetten anbietet. Regulär ist das «• 6» von 6 bis 10 Uhr morgens geöffnet. Fallen die Temperaturen aber unter -5 Grad, öffnet der Verein auch abends von 18 bis 23 Uhr. Dies sei diesen Winter 18 Mal vorgekommen, erzählt Flückiger. Wegen der Knappheit an Notschlafplätzen habe man im «• 6» die Anzahl der Betten von vier auf neun erhöht.

Wenn aber alle Stricke reissen, muss eine Person den einen oder anderen Tag auf einen Notschlafplatz warten. «Die werden von uns aber mit Winterkleidern und wintertauglichen Schlafsäcken ausgerüstet», erklärt Flückiger.

Ob dieser Trend von zu wenig Notschlafstellen anhalte oder wieder abflache, sei momentan schwierig zu sagen, sagt der Pinto-Leiter. Doch so viel steht fest: «Es ist schwierig, kurzfristig solche Aufgebote aufzuziehen und die Infrastruktur dafür zu besorgen.» Die Stadt Bern schaue daher momentan, was unternommen werden kann. «So wird analysiert, was man im Hinblick auf nächstes Jahr optimieren oder zusätzlich machen kann.»

veröffentlicht: 16. März 2023 17:35
aktualisiert: 23. März 2023 21:06
Quelle: BärnToday

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