Knie-auf-Hals-Prozess

Staatsanwalt verlangt Schuldspruch – ist aber von der Strafbarkeit nicht überzeugt

05.09.2023, 13:59 Uhr
· Online seit 24.08.2023, 08:03 Uhr
Zwei Polizisten sollen im Juni 2021 auf dem Berner Bahnhofsplatz einen Mann mit unverhältnismässiger Gewalt in Handschellen gelegt und abführt haben. Der zweite Polizist stand am Donnerstag vor Gericht. So verlief der Prozesstag.
Anzeige

Was nach einem Monsterprozess klingt, findet in einem unterirdischen, stickigen Raum vor einer einzigen Richterin statt. Während des Prozesses wird nicht nur hitzig über Polizeitaktiken, Fotos und mögliche Lügen diskutiert. Der Fall der beiden Polizisten wirft weitreichendere Fragen auf: Wie steht es um das Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei? Was ist verhältnismässige Anwendung von Gewalt? Welche Rolle spielen die Medien dabei?

Einer der beiden beschuldigten Polizisten wurde bereits befragt, der andere sitzt am Donnerstag in einem hellblauen Poloshirt vor der Richterin. Mehrere Arbeitskollegen, darunter auch die Vorgesetzten der beiden Polizisten, sind am Gericht erschienen. Obwohl der Fall medial hohe Wellen geschlagen hat, sind nur zwei Medienschaffende vor Ort.

Vorwurf: unverhältnismässige Gewalt

Dem anwesenden Polizisten wird vorgeworfen, dass er beim Festnehmen des Mannes unverhältnismässige Gewalt angewendet haben soll. Dabei geht es um einen sogenannten Kniestoss, einen Nasengriff und die Positionierung seines Knies im Nackenbereich des Mannes, der Privatkläger in diesem Fall ist. Vor Gericht erschien der Kläger nicht, er wurde ausgeschafft.

Worin sich alle einig sind: Zu Beginn hatte sich der Mann nicht gewehrt, er hatte sogar seine Hände hingehalten, damit die Handschellen angelegt werden können. Doch nach der ersten Handschelle ist die Situation eskaliert. Der Mann habe sich versperrt und gewehrt. Es sei nicht möglich gewesen, die zweite Handschelle anzulegen, auch gegen die Wand nicht.

Der beschuldigte Polizist und seine Patrouillienpartnerin entschieden sich, den Mann am Boden zu arretieren. Er wehrte sich heftig dagegen, habe aber weder Tritte noch Schläge ausgeteilt. Die Taktiken des Polizisten blieben erfolglos; so ist beispielsweise ein Kniestoss eine Ablenkungstaktik, um die betroffene Person arretieren zu können. Im Gerangel verletzte sich der Polizist. So seien die Möglichkeiten, die Handschellen anzubringen noch eingeschränkter gewesen. Er packte den Mann mit beiden Händen und brachte ihn so zu Boden – und sich selbst gleich mit.

Beschuldigter: «Gewaltanwendung war verhältnismässig»

Der Mann habe sich noch immer gewehrt. Während die Partnerin seine Füsse festhielt, habe der Polizist versucht die zweite Handschelle anzubringen und Verstärkung anzufordern. Damit ihm dies trotz der verletzten Hand gelang, hat er sein Knie auf den Mann gelegt. Er habe jedoch nicht bewusst Druck auf dessen Hals ausgeübt, wie der Beschuldigte mehrfach vor Gericht beteuert. «Es macht mich hässig, wenn man mir so Sachen unterstellt, wenn ich meine Polizeiarbeit mache», sagt der Beschuldigte. Die Gewaltanwendung, um ihn unter Kontrolle zu bringen, sei verhältnismässig gewesen.

Als er die Handschelle angelegt habe, hätten sie den Mann sofort wieder aufgerichtet und in Richtung Wagen gebracht. Bis dahin habe er sich gewehrt. Der Vorwurf lautet, dass der Mann Atemnot erlitten habe und ihm schwarz vor Augen geworden sei. Die Verteidigung argumentiert, dass der Kläger auf allen Fotos, die vom Vorfall gemacht worden sind, noch den Kopf heben könne. Daher liege kein Bewusstseinsverlust vor. Auch gäbe es keine Zeugen, die behaupten, gesehen zu haben, wie er absichtlich das Knie in den Nacken drücken würde. «Auf ihm gehockt mit dem Knie und dann ‹gepöiselet›, das habe ich sicher nicht gemacht», sagt der Beschuldigte.

Staatsanwalt verlangt Schuldspruch

Auch der Staatsanwalt kommt zum Schluss, dass der Vorwurf der bewussten Druckausübung auf das Knie nicht erwiesen ist. Interessant ist aber, dass er trotzdem einen Schuldspruch verlangt. Die Staatsanwaltschaft müsse manchmal anklagen, auch wenn sie nicht von der Strafbarkeit überzeugt sei, sagte der Staatsanwalt. Man müsse eine Grundlage für das Gericht bieten, welches dann das Urteil fällt. Bezüglich der Verhältnismässigkeit sei er sich unschlüssig. Man hätte vielleicht ein anderes Vorgehen wählen können.

Beim zweiten Polizisten stellt sich weniger die Frage nach der Verhältnismässigkeit, sondern eher nach dem korrekten oder eben gewaltsamen Verhalten. Dieser Beschuldigte ist nicht anwesend.

Er und ein Kollege sollen den Mann, der zuvor im Gerangel involviert war, in Handschellen zum Transporter gebracht haben. Zeugen wollen gesehen haben, dass er ihn in den Wagen geschubst habe und sich der Mann dadurch verletzt habe. Der Beschuldigte, seine Verteidigerin und auch der Kollege, der als Zeuge vor Gericht erschien, beharren auf einer anderen Szene: Der Mann sei gestürzt und die beiden Polizisten hätten ihn nicht rechtzeitig fangen können.

Scan den QR-Code

Du willst keine News mehr verpassen? Hol dir die Today-App.

Widersprüchliche Zeugen-Aussagen

Die Aussagen der verschiedenen Zeuginnen und Zeugen widersprechen sich. Bei diesen handelt es sich um Journalistinnen und Journalisten sowie Polizistinnen und Polizisten. Letztere machten nur wenig Aussagen, sie haben sich offenbar hinter dem Wagen befunden. Der erste Polizist kümmerte sich während des Transports in Wagen um seinen verletzten Finger. «Es haben alle weggeschaut, das finde ich verdächtig», sagt der Staatsanwalt. Auch für den Opferanwalt sei schockierend, dass niemand etwas gesehen habe. Die Verteidigerin stellte die Glaubwürdigkeit der Aussagen infrage und betont, dass rechtsmedizinisch nicht erwiesen sei, dass sich der Mann beim Fall verletzt habe. Der Staatsanwalt hingegen bezweifelt die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Beschuldigten und des beteiligten Zeugen.

Hier kannst du den Ticker aus dem Gerichtssaal nachlesen:

TeleBärn berichtete im Juni 2021 über die Verhaftung:

Quelle: TeleBärn

veröffentlicht: 24. August 2023 08:03
aktualisiert: 5. September 2023 13:59
Quelle: BärnToday

Anzeige
Anzeige
baerntoday@chmedia.ch